Es gilt das gesprochene Wort Bedeutung

Baran (Ogulcan Arman Uslu) trampt per Lkw nach Marmaris, einem Touristenort an der türkischen Riviera. Zielstrebig arbeitet der sportliche junge Mann sich vom Tellerwäscher zum Loverboy in einer Sexkneipe für deutsche Touristinnen hoch. Seine Kundinnen, sexuell offensive deutsche Urlauberinnen, sehen nicht immer wie Heidi Klum aus. Mitunter muss der Mann für gewisse Stunden buchstäblich Schwerstarbeit verrichten. Das alles erzählt der Deutschtürke İlker Çatak flott, fast ohne Dialog und mit traumwandlerischer Sicherheit. Çatak zeigt, wie ein türkischer Macho sich prostituieren muss. Dieser Anfang hat es in sich.

Nach einem abrupten Schauplatzwechsel wird die Lebenssituation der taffen Pilotin Marion (Anne Ratte-Polle) in Deutschland skizziert. Mit diesem Bruch verliert der Film ein wenig Drive und Spannung. Denn Marions Geschichte weicht auch stilistisch stark ab. Im Gegensatz zum ausdrucksstarken elliptischen Erzählstil der Türkeiepisode erinnert ihre komplizierte Beziehung zum verheirateten Musiklehrer Raphael (Godehard Giese) eher an einen TV-Film, in dem das Schicksal zuschlägt: Von ihrer überraschenden Brustkrebsdiagnose geschockt, jettet Marion mit Raphael, der nun die Scheidung verspricht und vom Zusammenziehen redet, nach Marmaris, wo Baran ihr über den Weg läuft – eine Begegnung, die ihr Leben verändert.

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Marion verschafft dem jungen Türken, der ihr Sohn sein könnte, mittels Heirat eine deutsche Aufenthaltserlaubnis, eine Wohnung und einen Job auf dem Flughafen. İlker Çatak erweist sich dabei als handwerklich versierter Regisseur, der diese Geschichte mit subtilen Detailbeobachtungen zu retten versucht. Dazu richtet er den Fokus zunächst auf Baran, der sich vorbildlich integriert, auf dem Flughafen dann aber in den Verdacht gerät, ein Gepäckdieb zu sein – eine nur angedeutete Geschichte, die auf spannende Weise offen bleibt.

Hier und da verhaspelt Çatak sich aber auch. Etwa wenn Nebenfiguren in dieser integrativen Liebesgeschichte als Beispiele gelebter Willkommenskultur fungieren. Als Baran etwa auf dem Flohmarkt gestohlene Fahrräder verhökert, wird er dabei von seinen Nachbarn gedeckt, entspannte, progressive Studenten, die in der Solidarität mit dem türkischen Dieb ein Statement für Weltoffenheit sehen. Auf einem Konzert lernt Marion schließlich die Lebenspartnerin ihrer Krebsärztin kennen, die als virile Lesbe daherkommt. Hier wird nebenbei noch die Diversity-Botschaft transportiert.

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Wie man den Film einschätzt, hängt davon ab, ob man die Gründe nachvollziehen kann, aus denen Marion den jungen Türken nach Deutschland holt. Dass diese selbst bestimmte, unabhängige Frau sich einen jüngeren Liebhaber nimmt, ist für sich genommen nachvollziehbar. Zumal Anne Ratte-Polle in dieser Rolle immer wieder sehenswerte schauspielerische Akzente setzt, etwa wenn sie vor einer Grundschulklasse ihren Beruf als Pilotin selbstironisch darstellt. Konstruiert erscheint es hingegen, dass die Selbstentfaltung dieser sympathischen und zugleich gebrochenen Figur mit dem politisch aufgeladenen Thema Migration verknüpft wird.

Eine Eheschließung kann in einer modernen Gesellschaft eine bemerkenswert knappe Angelegenheit sein. Im Fall von Marion und Baran sind nicht einmal Trauzeugen anwesend, nur eine Standesbeamtin und ein Dolmetscher, denn Baran ist Türke. Kurdischer Türke. Es bedarf nicht einmal mehr einer Unterschrift, denn „es gilt das gesprochene Wort“. Ein klein wenig Symbolik gibt es dann doch noch: „Üblicherweise folgt nun der Austausch der Ringe – und eine entsprechende zwischenmenschliche Geste“, mit diesen Worten beendet die Vertreterin der Allgemeinheit die Zeremonie.

Über die „entsprechende Geste“ haben Baran und Marion unterschiedliche Vorstellungen: Sie bietet ihm ihren Mund, er aber küsst sie auf die Wangen. Wichtiger sind ohnehin die Ringe, denn damit bezeugen Eheleute in der Öffentlichkeit, dass sie zusammengehören.

Die Ehe, mit deren Schließung Ilker Cataks Film „Es gilt das gesprochene Wort“ beginnt, wird in erster Linie für die Öffentlichkeit geschlossen. Marion hat weder vor, mit Baran zusammenzuleben, noch die Ehe zu vollziehen, wie man das traditionell nannte, als dafür auch eine entsprechende Nacht vorgesehen war. Die Hintergründe dieser nur zum Schein geschlossenen Ehe sind klar definiert: drei Jahre soll sie dauern, danach würde Baran Anspruch auf einen deutschen Pass haben, und der Zweck der Sache hätte sich erfüllt. Beide könnten ihrer Wege gehen.

Frauen aus Europa

Warum lässt Marion sich auf so etwas ein? Sie hat eigentlich mit ihrem eigenen Leben genug zu tun. Eine Krebsdiagnose hat gerade alles verändert, und ihr Freund Raphael spricht nun, obwohl selbst noch in einer anderen Beziehung, von einer gemeinsamen Wohnung. Marion ist eine zutiefst vernünftige Person. Oder sollte man vielleicht besser sagen: eine Frau, die sich beherrscht, sieht man vielleicht von den Zigaretten ab. Immerhin lässt sie sich von Raphael zu einem Urlaub in der Türkei überreden. Dort trifft sie auf Baran. Dort gibt es auch konventionelle Formen für eine vorübergehende Beziehung. Baran ist ein Gigolo, er schläft mit Frauen aus Europa, beide Seiten kennen ihre Grenzen und überschreiten sie nur gelegentlich, wenn Alkohol im Spiel ist. Dann gibt es Szenen sexueller Belästigung, aber wer würde da in Urlaubsstimmung allzu genau hinschauen wollen.

Zwischen Baran und Marion aber herrscht von Beginn an ein anderer Ton. Sie ist keine Frau, die schnellen Sex sucht, und er macht kein Hehl daraus, dass er sich nicht mit ein paar Geldscheinen zufriedengibt, die ihm eine Belgierin zusteckt. Er will dieselben Rechte, die ihr zustehen. Er will das, was sich nicht kaufen lässt: einen Ausweis darüber, dass er die Seite gewechselt hat. Das Motiv der Reziprozität macht dann aber Marion ganz ausdrücklich: „You would do the same for me.“ Der Satz fällt beiläufig, aber genauer kann man diese Figur kaum charakterisieren – eine Deutsche in mittlerem Alter, von Beruf Pilotin, von der Gesinnung her Rationalistin. Sie vollzieht einfach eine Handlung, die ihr einleuchtet: ihr Pass und der, den Baran hat, entsprechen einander auf einer Ebene, die nur sie herstellen kann.

Vorstellungen von Deutschland

„Es gilt das gesprochene Wort“ ist ein Film über die Lotterie, auf der die ganzen gesellschaftlichen Debatten über offene oder je nachdem geschlossene Grenzen beruhen. Der Regisseur Ilker Catak, geboren 1984 in Berlin als Sohn türkischer Einwanderer, ist mit beiden Seiten vertraut. Im Kern ist sein Film aber doch vor allem eine Beobachtung darüber, wie er sich offensichtlich Deutschland vorstellt. Marion, gespielt von Anne Ratte-Polle, entspricht so manchem Klischee, das man über Deutschland hören kann, gerade wenn man ans Mittelmeer fährt. Die Deutschen sind überlegt, sie planen alles gut, und in ihrem Land funktioniert alles.

Ungefähr in diesem Geist geht Marion an die Ehe mit Baran heran: eine sozialtechnische Aufgabe, die ihr noch dazu dabei helfen kann, ein wenig von ihr selbst abzusehen. Von ihrer Operation, von ihrem neuen Körpergefühl danach, von dem hartnäckigen Werben von Raphael (Godehard Giese). Es wirkt dann beinahe wie ein Zugeständnis an die heute geläufigen Erzähldramaturgien, dass schließlich das Naheliegende eintritt: Gefühle machen sich bemerkbar, und die äußere Welt lässt sich auch nicht auf Dauer ausschließen.

Als Fassbinder 1973 „Angst essen Seele auf“ herausbrachte, da wusste Deutschland noch kaum etwas von seinen Bewohnern mit Migrationshintergrund (geschweige denn von einer sprachlichen Sensibilität, die nach solchen Formulierungen sucht). Aber Fassbinder hatte dafür einen anderen Rahmen. Für ihn gab es in Hollywood die Formen, die er auf die Beziehung zwischen Emmi und Ali übertrug. Das Melodram einer alten Frau, mit dem Brigitte Mira an die Seite von Jane Wyman aus „All That Heaven Allows“ treten konnte, überhöhte eine deutsche, kleinbürgerliche Welt in einen aufgeklärten Mythos, der noch das pessimistische Ende mitprägte.

Ilker Catak macht nun mit seinem Filmtitel deutlich, dass ihn an einer vergleichbaren Geschichte etwas Gegenteiliges interessiert: nicht die Register des Kinos, sondern die Register der Institutionellen, des Prozeduralen, in denen sich allmählich zu erkennen gibt, was gemeinhin das Menschliche genannt wird. Marion gewinnt dabei mehr Profil als Baran, der bis zuletzt eher eine Chiffre bleibt – die zufällige Verkörperung eines Anspruchs, auf den eine Bewohnerin eines der privilegiertesten Staaten der Welt reagiert.

„Es gilt das gesprochene Wort“ schickt sich für eine gute Stunde lang an, ein Experiment zu wagen: einen Film über zwei Menschen, die einander nicht auf einer persönlichen, sondern auf einer prinzipiellen Ebene begegnen. Danach kommt das Unausweichliche: das normale Leben, das auch im Alltag weder wirklich Melodram noch bloßes Funktionieren ist. Der Film wird zu dem absehbaren Sozialdrama, das er im Kern natürlich immer war, zu dem er aber für eine Weile eine spannende Distanz gefunden hatte. Üblicherweise folgt dann eine Krise im dritten Akt.