Wer ist mert t

Der Angeklagte hat sich eine weinrote Kapuzenjacke übergeworfen, die sein Gesicht verbirgt. Der junge Mann dreht sich auch dann nicht in Richtung Publikum, als die Kameras den Saal verlassen haben. Der Andrang vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts Stuttgart ist ebenso groß wie das Unverständnis unter den Zuhörern für die Tat.

Der 20-jährige Mert T., von Beruf Kfz-Mechatroniker, hat laut Staatsanwaltschaft am 6. März zwei Menschen totgefahren, obwohl er um das Unfallrisiko wusste; mit einem gemieteten Sportwagen, einem Jaguar F-Type Coupé, 550 PS stark, um kurz vor Mitternacht nach einer stundenlangen waghalsigen Spritztour durch die baden-württembergische Landeshauptstadt.

Mert T. rammte das Auto eines jungen Paares, als dieses mit einem Citroën-Kleinwagen aus einem Parkplatz in die Rosensteinstraße nahe des Stuttgarter Hauptbahnhofs einbiegen wollte. Erlaubt sind an der Stelle 50 Kilometer pro Stunde. Der Angeklagte fuhr wohl dreimal so schnell. Er und sein Beifahrer blieben unversehrt.

"Veränderte Rechtsprechung"

Die Staatsanwaltschaft wertet den Crash als Mord. Sie war zunächst von fahrlässiger Tötung ausgegangen. Doch der Vorwurf wandelte sich nach Auswertung des Bordcomputers. Es gehe hier auch um eine "neue, möglicherweise veränderte Rechtsprechung", erklärt die Vorsitzende Richterin.

Folgt die Kammer der Sichtweise der Anklage, dann stünde der Stuttgarter Raserprozess in einer Reihe mit einem Fall in Hamburg: Dort hatte 2017 ein Mann mit einem gestohlenen Taxi einen Mann getötet und zwei verletzt. Der Bundesgerichtshof bestätigte im Frühjahr das Mordurteil. In Stuttgart sind vorerst 16 Termine angesetzt.

Staatsanwältin Christine Bez zeichnet in ihrer Anklage eine wahnsinnige Raserfahrt durch Stuttgart über einen halben Tag nach: Gegen 15 Uhr übernahm T. den weißen Jaguar vom Vertreter einer Nürtinger Autovermietung. Mit wechselnden Beifahrern fuhr er anschließend durch die Stadt, um Kumpels und Mädchen zu beeindrucken.

Unfallstelle in Stuttgart (im März 2019): Unfall nach 50 Sekunden Fahrt

Unfallstelle in Stuttgart (im März 2019): Unfall nach 50 Sekunden Fahrt

Foto: Kohls/SDMG/dpa

An den Ampeln soll T. mit röhrendem Motor gehalten haben, mehrfach sei ihm das Heck ausgebrochen. Auf der Autobahn in der Nähe des Flughafens sollen 274 km/h erreicht worden sein. Dann ging es zurück in die Stadt, so die Staatsanwältin, "unter völliger Missachtung der innerörtlichen Geschwindigkeitsregeln". Über T. sagt sie: "Die berechtigten Interessen anderer Verkehrsteilnehmer waren ihm völlig gleichgültig."

Bilder der Fahrt wurden Kumpels und Bekannten über Instagram-Storys oder WhatsApp-Nachrichten geliefert. Ein Bekannter, K., bat um eine Mitfahrt, Mert T. holte ihn an seiner Wohnung ab. Nach rund 50 Sekunden Fahrt geschah dann der Unfall. Das Paar im völlig zerstörten Kleinwagen starb noch an Ort und Stelle, Trümmerteile beschädigten ein nahes Billard-Café. Fazit der Staatsanwältin: "Mord in zwei tateinheitlichen Fällen" mit einem "gemeingefährlichen Werkzeug".

Ein Milieu, in dem dicke Autos viel zählen

So sitzen in Stuttgart auch ein klein wenig Politik und Autoindustrie mit auf der Anklagebank, ausgerechnet in der Stadt, die von der Herstellung PS-starker Boliden lebt. Wie andere Großstädte hat die Region schon länger ein Problem mit Autoposern, die in übermotorisierten Fahrzeugen ihre Runden drehen, es passierten bereits mehrere schwere Unfälle.

Auch T. war in einem Milieu zu Hause, in dem dicke Autos viel zählen: In der Shisha-Bar im Nordbahnhofviertel zeigte man sich gegenseitig Videos von rasanten Fahrten, Angeklagter und Beifahrer waren schon einmal gemeinsam mit einem geliehenen Auto unterwegs, auf einem Autokorso in der Innenstadt nach einer Hochzeit.

So fordert der Verteidiger von T., Rechtsanwalt Markus Bessler, denn auch gleich in seiner Eingangserklärung eine "Einzelentscheidung, die nicht dem Zeitgeist geschuldet ist". Es habe sich nicht um ein Rennen gehandelt, der Angeklagte habe ein normales Leben geführt, das jugendliche Alter sei zu beachten.

Den Mordvorwurf weist Bessler zurück. Und: "Für generalpräventive Gedanken, etwa zur Abschreckungswirkung, ist hier kein Platz."

Die Aussage des Beifahrers

Allerdings offenbart auch die anschließende Aussage des Unfallmitfahrers K. mangelnde Einsicht. Als T. röhrend durch das Viertel fuhr, habe er gedacht: "Jaguar, bei uns im Nordbahnhof, wow." Er habe dem Crash-Fahrer getextet: "Hast du Lust, noch eine Runde drehen." T. habe geantwortet: "Ja, machen wir schnell."

Er selbst habe keinen Führerschein, so K., vor Beginn der Fahrt habe er T. gesagt: "Übertreibe es nicht". Man sei die Straße hinuntergefahren, Fahrer T. habe "aufs Gas draufgedrückt", "dann kam eines zum anderen".

Die ganze Zeit habe er als Beifahrer sein Handy in der Hand gehabt, so K., aber ob er gefilmt habe, das wisse er nicht mehr, wahrscheinlich "zu 55 Prozent". Es gibt Hinweise darauf, dass die Kumpels Stunden nach dem Crash belastende Videos löschten. Erste Hilfe am Unfallort leisteten sie hingegen nicht. Der Crash-Fahrer sei "so ein Internet-Poser" gewesen, erzählt der Zeuge. Während der Aussage wippen seine Füße in den weißen Turnschuhen.

Die Eltern der Getöteten folgen dem Prozess, für die Pulte der Nebenklage haben sie Fotos der Toten mitgebracht, ein Vater trägt ein T-Shirt mit einem Abbild seines Sohnes. Es sei sehr schwer für seine Mandanten, erklärt der Vertreter der Nebenklage, Christoph Arnold, vor dem Gerichtssaal. "Das Zurückziehen des Angeklagten auf eine vermeintliche Jugendlichkeit überzeugt nicht" - schließlich dürfe man ja auch schon ab dem Alter von 18 Jahren mit einem Führerschein Auto fahren.