Fernando pessoa das buch der unruhe

Online-Premiere 11.06.2021 › Albertinum

nach Fernando Pessoa
aus dem Portugiesischen von Inés Koebel
in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

„Verzicht ist Befreiung. Nicht wollen ist können.“

Fernando Pessoa ist nicht nur der wichtigste moderne Schriftsteller Portugals, seine Texte und vor allem sein BUCH DER UNRUHE gehören zu den wesentlichen Innovationen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Pessoa erfindet für dieses Buch ein Alter Ego, den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, der sein Leben im Lissabon der zwanziger und dreißiger Jahre aufzeichnet. Pessoas epochales Werk erschien erst 1982, 47 Jahre nach dem Tod des Autors. Die tagebuchartigen Aufzeichnungen bilden keine Handlung ab, es sind freie Assoziationen und innere Monologe. Das minutiöse Beschreiben innerer Vorgänge macht den Kopf des Autors zu seiner Lebensbühne, hier schildert Pessoa das ‚Drama im Menschen‘. Pessoas Sehnsucht gilt einem kontemplativen Leben und einer Ästhetik des Verzichts. Die einzige Illusion, die Pessoas Held akzeptiert, ist die Kunst.
Für eine Präsentation im Theater ist Pessoas Haltung und Ästhetik eine Herausforderung, der sich der Regisseur Sebastian Hartmann und sein Team in einer besonderen Weise stellen werden. Die Arbeit wird keine Inszenierung im herkömmlichen Sinn sein, eher eine theatrale Installation. Spielort ist der Lichthof des Albertinums, in dem die Zuschauer*innen das stetige Ringen Pessoas mit seiner inneren Welt sinnlich erfahren können.

Fernando Pessoas posthum veröffentlichtes literarisches Lebensprojekt entwickelt in tagebuchartigen Fragmenten den Entwurf eine Lebenskonzeption, in der bewusste Isolation und Kontemplation, Schlaf und Traum, wichtiger als das aktive Alltagsleben sind. Die achtstündige Aufführung findet deshalb für die digital zugeschalteten Zuschauer*innen in der Zeit des Schlafes, für die Dauer einer Nacht, statt.

Dauer der Aufführung: ca. 8 Stunden

und

Konstantin Antelmann, Henrike Demuth, Maria González Havlík, Eva-Marlene Jaekel, Angelika Kuge, Bertolt List, Susanne Meyer, Parisa Mousavi, Yamile Navarro, Skander Soumri

Videooperator

Edgar Franke, Max Rothe, Diana Stelzer, Theresa Tippmann

Sounddesign

Benjamin Blechschmidt, Robert Freitag, Georg Graebner

In der langen Filmnacht am Samstag, dem 9. Juli 2022 auf der Bühne des Schauspielhauses zeigen wir zum ersten Mal von 18.00 bis 2.00 Uhr als öffentliches Screening Sebastian Hartmanns Inszenierung, die vor einem Jahr als Livestream im Lichthof des Albertinums entstand.
In Liegestühlen können Sie auf der Bühne des Schauspielhauses die Sommernacht mit Pessoas Meisterwerk genießen. Ein einmaliges Erlebnis!

Verlauf und zeitliche Strukturierung der theatralen Installation spiegeln die Phasen des nächtlichen Schlafens und Träumens. Zu Orientierung für die Zuschauer*innen haben wir einen schematischen Überblick erstellt, der dem Strukturmuster der Inszenierung von Sebastian Hartmann folgt.

Schlaf der Unruhe

In der Inszenierung DAS BUCH DER UNRUHE spielt unter anderem das Thema Schlaf eine große Rolle. Deshalb haben sich Chefdramaturg Jörg Bochow und Social Media Managerin Désirée Noffke dieser Thematik auch noch auf einer anderen Ebene genähert: in einem Podcast mit dem Titel SCHLAF DER UNRUHE.
In fünf Interview-Folgen sprechen sie mit verschiedenen Gästen über unterschiedlichste Aspekte dieses doch sehr umfassenden Themas. Ist Schlaf verlorene Zeit? Warum träumen wir? Welche biochemische Funktion hat Schlaf? Wo schläft man am besten – vielleicht tatsächlich im Theater, während einer Vorstellung?

DAS BUCH DER UNRUHE WIRD durch einen ETC Digital Theatre Grant unterstützt. Die Förderung ist Teil des ETC-Programms „ENGAGE – Empowering today’s audience through challenging theatre“ und wird kofinanziert durch das Creative Europe Programm der Europäischen Union.
THE BOOK OF DISQUIET is supported by ETC Digital Theatre Grants. ‚Theatre in the Digital Age‘ is part of the ETC programme „ENGAGE – Empowering today’s audience through challenging theatre“ and co-funded by the Creative Europe Programme of the European Union.

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

Fernando pessoa das buch der unruhe

Ammann Verlag, Zürich 2003
ISBN 9783250104506
Gebunden, 576 Seiten, 49,90 EUR

Klappentext

Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel auf der Grundlage der Übersetzung von Georg Rudolf Lind. Längst gehört "Das Buch der Unruhe" zum Kanon der Weltliteratur, und man darf es als unerwartetes Geschenk empfinden, daß nun weitere 280 Seiten dieses Werks vorliegen. Um gut die Hälfte erweitert ist die Neuausgabe, deren Textabfolge auf Grundlage der neu gefundenen Texte eine gänzlich neue Anordnung erfahren hat. Ein Hauptwerk der europäischen Literatur erscheint somit erstmals vollständig, teils in überarbeiteter und teils in neuer Übersetzung.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 29.11.2003

Fernando Pessoa, der "wichtigste portugiesische Autor" des 20. Jahrhunderts, war nicht ein Autor, sondern gleich mehrere - Figuren, die er sich erträumt oder erdacht hatte, berichtet Rezensent Jörg Sundermeier. Es wäre ein Fehler, Pessoa mit dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares zu verwechseln. Die Übersetzerin der Neuausgabe des "Buches der Unruhe", Inés Koebel, scheint aber eben diesem Irrtum auf dem Leim gegangen zu sein, stellt Sundermeier fest. Die "Autobiografie ohne Ereignisse", der umfangreichste Teil des Buches, scheine ihr - wie auch dem portugiesische Herausgeber Richard Zenith - als die Autobiografie des "wahren" Pessoa zu gelten. Die Texte und Textfragmente des Buchmanuskripts, Zettel ohne Bauplan und genaue Anweisungen, habe Zenith thematisch geordnet. Dadurch wird die Lektüre des Buches im Vergleich zur alten Ausgabe nach Einschätzung Sundermeiers "anstrengender". Einerseits wegen der Unzahl von gedanklichen Wiederholungen, andererseits, weil aus dem kontrollierten und bissigen Melancholiker, als den man Soares bislang kannte, ein Romantiker geworden sei, der seine narzisstische Gekränktheit kaum verbergen könne. Dass Zenith den Zustand des Materials offen gelegt hat, würdigt Sundermeier als "großes Verdienst der Neuausgabe", auch wenn die Anordnung des Materials Pessoa möglicherweise nicht gefallen hätte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 30.07.2003

Nicole Henneberg singt eine Hymne zu Ehren von Fernando Pessoa, doch will sie niemanden in den Schlaf wiegen, sondern im Gegenteil auf das zutiefst Beunruhigende in seinem großen Roman hinweisen, das auf Deutsch erst jetzt erfahrbar wird. Nie mehr, schreibt sie, werde man versucht sein, "diesen Autor nur als sanft-traurigen Erzähler Lissabons anzusehen". Er erstehe stattdessen als Meister der "geträumten Soziologie", der so weit wie möglich vom Leben wegtrat (ohne wegzuschauen), um als "Nervenmaschine" jede Regung in sich festzuhalten: ein "unsentimentaler, stellenweise sogar grausamer Beobachter seiner selbst", der seine "Masken und Schreibhaltungen" schmerzhaft ausspielte und "die Einheitlichkeit des Ichs zersplittern (ließ) wie einen herabfallenden Eiszapfen". Davon zeuge, so Henneberg, dieses "radikal moderne" Textkonvolut, die Gesamtheit der Fragmente eines Schreib- und Denklebens, ausbuchstabiert in der fiktiven Handschrift von Pessoas Alter Ego Bernardo Soares, die in der alten Übersetzung im Namen eines unterstellten Leserinteresses nur begradigt und zur Hälfte zu lesen war. Die neue Übertragung von Inès Koebel, schreibt Henneberg, ist im Ton "härter" und "klarer", und vor allem ist sie ungekürzt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 31.05.2003

Vor zwanzig Jahren erschien Pessoas Hauptwerk - das, wie Joachim Sartorius einen vielleicht ein wenig übertreibenden Freund zitiert, "lebensprägend für eine Generation" wurde - erstmals in deutscher Sprache. Nun eine Neuausgabe, um 260 Seiten ergänzt, die nichts entscheidend Neues hinzufügen, aber Ergänzungen liefern, die der Rezensent nicht mehr missen möchte. Eine Dramaturgie hat die ganz nach innen gewendete Geschichte des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares ohnehin nicht, die Eintragungen des Protagonisten in sein "Buch der Unruhe" verbinden sich, so Sartorius, nach Art der "Kacheln eines portugiesischen Innenhofes", messen, nach und nach, den "inneren Raum" des Weltverhältnisses von Soares aus. Und dieses Verhältnis ist geprägt von einem düsteren Gefühl der Nichtzugehörigkeit, es geht um ein Leben, das tot scheint, einen Tod im Leben, um "nichtige Wirklichkeit". Diese Notate, zu sich selbst gesprochen, fügen sich nichtsdestoweniger, befindet Sartorius, zu einem "bewegenden, niederziehenden, großartigen Buch". In seiner neuen Form hat es nichts verloren und nur gewonnen, die alte "Magie", der "schimmernde Magnetismus", den der Rezensent erinnerte, ist geblieben und um Eintragungen gleicher Güte ergänzt.

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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.05.2003

Ausführlich erläutert Georges Güntert in seiner Besprechung die Entstehungsgeschichte dieser Neufassung des "Buches der Unruhe", das eine lose Sammlung von Fragmenten aus Fernando Pessoas literarischem Nachlass vereinigt und die 1985 erschienene Ausgabe um weitere identifizierte Texte erweitert. Für Güntert hat sich die jahrzehntelange Arbeit der Entzifferung definitiv gelohnt, erleichtere sie dem Leser doch erheblich den Zugang zu diesem "Zufallsbuch seines Nachsinnens", wie Pessoa seine erste Fassung genannt hatte. Das Bild, das sich in dieser "Autobiografie ohne Fakten" von Pessoa (in Gestalt des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares) auftut, hat Güntert dabei tief beeindruckt. Fasziniert schildert er Pessoas Weltbild aus Wolken, Nebelschwaden und Meeresgeruch - "ein sich in nichts auflösendes Traumgebilde". Dabei können sich durchaus Abgründe auftun, "wenn dieser Träumer die Welt bewusst betrachtet", versichert der Rezensent: Denn dann werden wir alle zu Buchhaltern, schließen die Bilanz, "und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns".