Dein ist mein ganzes Herz Grönemeyer

Die 1970er und 1980er mit der Neuen Deutschen Welle haben das Auftreten der Schlagerstars verändert. Wer nun deutsche Texte singt und im Pop-Bereich am Puls der Zeit sein will, der strahlt in Neonfarben; dessen Musik wird rockig bis elektronisch-experimentell; und dessen Textinhalt, der bleibt in vielen Fällen den alten Themen treu: Liebesleid und Liebesglück. Ändert sich auch oft nichts an der grundlegenden Thematik, so zeigt doch die sprachliche Seite einige Merkmale, mit denen die Texter auf den Zeitgeschmack reagieren.

Heinz Rudolf Kunzes NDW-Hit Dein ist mein ganzes Herz aus dem Jahre 1985 (Text: Kunze), illustriert diese Beobachtung. Den neuen musikalischen Tönen und dem neuen Image des deutschsprachigen Popkünstlers wird ein Sprechton an die Seite gestellt, der sich bewusst von traditionellen Schlagerfloskeln abhebt. Denn was am Anfang der Schlagergeschichte modern und neu klang, zeigt durch jahrzehntelangen Gebrauch ganz natürliche Abnutzungserscheinungen. Durch zeitgenössische Brechungen der gängigen Schlagerrhetorik wirkt diese wieder aktuell. Die Sprachbilder werden kantiger und alltagsnäher, erscheinen nicht mehr so sauber und schlagerrein, bedienen sich aber dennoch am Bildschatz der Schlagersprache. Somit klingen die verwendete Floskeln zwar immer noch vertraut, aber nicht mehr so abgenutzt und oft gehört, wodurch sie wieder an Echtheit und Glaubwürdigkeit gewinnen.

Kunzes Hit eignet sich besonders gut dazu, einen stilistischen Vergleich zu früheren Praktiken anzustellen, da er sich auf einen Prätext gleichen Titels aus den 1920ern bezieht: Dein ist mein ganzes Herz ist die Liebesschmerz-Arie des Prinzen Sou-Chong aus Franz Lehárs Operette Das Land des Lächelns (1923/29), Text von Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda. Mit dem intertextuellen Bezug zitiert Kunze also ein Lied, das paradigmatisch für die frühe Schlagergeschichte und damit auch für deren Rhetoriktradition steht. Im ersten Teil der Interpretation wird die erste Strophe von Kunzes Lied mit ihren Sprachspielereien und literarischen Referenzen unter die Lupe genommen. Dazu werden konkrete Bezüge zum Operettentext aufgezeigt und die damit einhergehende Aktualisierungstendenz der Stilistik bei Kunze genauer betrachtet. Im zweiten Teil (folgt nächste Woche) werden die intertextuellen Bezüge weiter betrachtet, vor allem in Form eines Stilvergleichs. Im Vergleich mit der romantisierenden Sprache in der Operettentradition fällt Kunzes kernige Sprache besonders auf. Dabei wird Kunzes markiger Sprachstil und sein eigenwilliges Spiel mit Redewendungen und gängigen Metaphern analysiert.

Teil I: Apokalypse

Gleich in der ersten Strophe von Kunzes Dein ist mein ganzes Herz zeigt sich, dass sich Kunze nicht nur auf ein literarisches Vorbild bezieht, sondern der ganze Liedtext durchzogen ist mit Literaturzitaten und Sprichwörtern. Zu Beginn der ersten Strophe bemüht die Sprechinstanz die Literaturtradition, um ein Beziehungsendzeitszenario zu inszenieren. Zum Auftakt der apokalyptischen Sprachbildsymphonie erscheint der Teufel: „Wir haben uns auf Teufel komm raus geliebt,/ dann kam er und wir wussten nicht mehr weiter“.

Der Ausruf „Auf Teufel komm raus!“ stammt nach Röhrichs Lexikon Redensarten (vgl. Röhrich: Redensarten (1992). Bd. 3: Sal bis Z, S. 1608-1621) aus dem 19. Jahrhundert und beruht auf der Vorstellung, „daß der Mensch durch bestimmte Handlungen und Worte das Erscheinen des Teufels hervorrufen könne“. Die beiden, die sich einst liebten, haben also ihr Gefühlschaos selbst verursacht. Allerdings ist auch eine ambivalente Lesart der Liedzeilen möglich: Nicht nur ist mit dem Erscheinen des Teufels metaphorisch auf Unheil verwiesen, sondern auf Teufel komm raus kann auch als verstärkende Wendung in einem Satz auftauchen, z.B. „Er schuftete auf Deiwel komm raus“. Beides schwingt in den Zeilen mit. Denn das Paar hat sich wohl wirklich einmal sehr stark geliebt und tut das vielleicht immer noch. Trotzdem kam es zur Beziehungskatastrophe. Das macht die Situation für die Beteiligten besonders tragisch.

Das Heraufbeschwören des Teufels führt noch zu einer weiteren Deutungsebene. Liest man die Anfangszeile vor dem Hintergrund eines magischen Weltbilds, könnte man auch das tatsächliche Erscheinen des Satans als Person annehmen. Dieses (fiktionale) Spiel mit der Möglichkeit eines wahrhaftig auftretenden Teufels unterstützt die dunkle Einstiegsnote durch ihre Nähe zu Heraufbeschwörungsriten des Okkultismus’. Freilich ist man schnell dazu verleitet, den metaphorischen Teufel auszudeuten als Problem, Beziehungskrise oder Ähnliches, um ihm rational Sinn zu geben. Von vornherein nötig ist es allerdings nicht, die Teufelsfigur komplett rational zu deuten. Gerade mit Blick auf den Kanon der literarischen Klassiker sind inkarnierte Teufelsfiguren keine Seltenheit: Als deutscher Mythos schlechthin verankert Faust die Vorstellung eines „menschlich“ auftretenden Teufels im kollektiven Bewusstein. In der Gegenwartliteratur denkt man an Helmut Kraussers Der große Bagarotzy. Wie man den Teufel im Text auch verstehen möchte, wichtig ist vor allem die Feststellung eines Sprachspiels mit vielen Bedeutungsebenen, das den Zeilen eine überreizte, leicht wahnhafte Spannung verleiht, die wohl dem Gefühlszustand des Sprecher-Ichs entspricht.

Sicher ist auch, wo der Teufel einmal die Bühne betreten hat, droht Unheil. Der Höllenbote bringt Leid und Qualen, manipuliert Menschen. So versucht sich das Liebespaar plötzlich an tragischen Rollenfächern. Das Sprecher-Ich wird zum „finstere[n] Reiter“, sein Beziehungspartner zum „sterbende[n] Schwan“. In diesen beiden Vergleichen schwingt bereits Untergangstimmung mit. Der sterbende Schwan ist aus der Balletttradition bekannt. Man denkt an Tschaikowskys Schwanenssee und das vertanzte Dahinsterben des Schwans. Außerdem ist eine Verbindung zum Begriff Schwanengesang möglich, der im Sinne des Abgesangs ebenfalls auf ein nahendes Ende verweist. Unter Schwanengesang versteht man das letzte Werk eines Dichters oder Musikers vor seinem Tod. Dieses Bild hängt mit der antiken Vorstellung zusammen, nach der ein Schwan vor dem Sterben singt (vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Schwanengesang). Um das Niedergangspathos allerdings nicht zu gewaltig werden zu lassen, bricht Kunze das Sprachbild durch das Spiel mit einer Redewendung: Wenn jemand den sterbenden Schwan gibt, dann übertreibt er sein Leiden, stellt es bewusst aus. Somit fällt der Frau (eine Diskussion zur Gender-Thematik wird hier zugunsten der Übersichtlichkeit ausgespart) im letzten großen Beziehungsstreit die klischeehafte Rolle der theatralisch Leidenden zu.

Nicht nur auf bildlicher Ebene zieht der sterbende Schwan die Aufmerksamkeit auf sich, schon durch ihren alliterativen Charakter tritt die Wendung deutlich hervor. Onomatopoetisch weisen die palatalen Einstiegslaute auf einen möglichen letzten Seufzer und Atemzug. Demgegenüber stehen die vielen rollend-polternden R-Laute und stimmlosen Plosive beim „finsterer[n] Reiter“, dem Gegenpart zum sterbenden Schwan. Der Mann nimmt also schon auf sprachlicher Ebene die wuchtigere Rolle im Beziehungsstreit ein; und auch bildlich: das Pferd, auf dem er sitzt, überragt den Schwan in Größe und Masse bei weitem.

Mit dem Bild des „finstere[n] Reiters“ kommt einmal mehr die literarische Tradition ins Spiel. Das Symbol bezieht sich auf den meistzitierten Prätext in der abendländischen Literaturtradition: die Bibel. Der finstere oder schwarze Reiter ist nämlich der dritte apokalyptische Reiter aus dem letzten Buch des Neuen Testaments (Offenbarung 4-5). Gemeinhin wird der Reiter mit der Waage als Bringer von Teuerung und Hungersnot interpretiert. Bei Kunze mag die Waage als Symbol dafür stehen, dass die zwei Parteien in einem Trennungsstreit sich gegenseitig ihre Fehler vorhalten und aufwiegen. Wahrscheinlicher aber ist, dass das Symbol des apokalyptischen Reiters ganz einfach für das drohende Ende steht; vor allem, da mehrere Reiterfiguren, wie die des dritten mit dem vierten, todbringenden Reiter, im finsteren Reiter Kunzes zusammenfließen.

So apokalyptisch auch der Einstieg des Lieds sein mag, schnell zeigt sich, dass der Sprecher die Beziehung eigentlich gerne retten möchte. Denn die Vergleiche mit Schwan und Reiter hinken im Bezug auf die Partner: Das Sprecher-Ich betont: „du machtest dich nicht gut als sterbender Schwan/ ich hab versagt als finsterer Reiter“. So erklärt sich auch, warum die höllischen Requisiten „Pech und Schwefel“ plötzlich eine positive Bedeutung erhalten. Denn das ehemalige Paar passte doch einst so gut wie Pech und Schwefel zusammen. Erneut ermöglicht das Spiel mit den unterschiedlichen Abstraktionsgraden einer Sprichwortmetapher diese kühne inhaltliche Wendung. Wie Pech und Schwefel zu sein, diese Redensart verwendet man um zu unterstreichen, wie gut sich zwei Menschen verstehen und, dass sie folglich immer zusammen ihre Zeit verbringen, untrennbar sind.

Der übertragenen Bedeutung von den sprichwörtlichen Materialien Pech und Schwefel wird die eigentliche nicht nur durch den Höllenbezug untergeschoben, sondern auch durch die Antithese mit „Gletscher und Geröll“. Unverholen bringt das Sprecher-Ich die Situation mit dem Bild von montanarischer Eisschicht und dazugehöriger steiniger Endmoräne auf den Punkt: Es sitzt vor den Trümmern seiner Beziehung. Wieder tritt die lautmalerische Seite hinzu, und macht das Sprachbild durch Alliteration noch plastischer. Geröll liefert mit seiner Betonung auf der zweiten Silbe und deren Zusammensetzung aus dem rollenden R, und der verwaschenen ö-l-Kombination gar den Soundeffekt zum In-Schutt-und-Asche-Liegen der Beziehung. Gletscher und Geröll scheint dazu eine neu formulierte Wendung zu sein, der aufgrund ihres erdig-prosaischen Hau-Ruck-Charakters jede Form von stilistischer Süße abgeht.

Bei der Formulierung „wir haben so viel Glück auf dem Gewissen“ liegt ebenfalls eine Ambivalenz der übertragenen Bedeutung vor. Zwar spielt die Zeile mit der Formel etwas auf dem Gewissen haben, doch das, was da auf dem Gewissen liegt, ist das abstrakte Konzept Glück, das sich qua Konstitution schon einer Materialisierung entzieht. Der Reiz dieses rhetorischen Bilds liegt im Oszillieren zwischen positiver und negativer Bedeutung der Ausgangsredensart: Das auf dem gewissenliegende Glück kann entweder als nostalgische Ansammlung gemeinsamer Glücksmoment ausgedeutet werden, die dann wiederum ganz wörtlich „auf dem Gewissen“ angehäuft sind. Oder es dreht sich um die traditionelle Bedeutung der Floskel etwas auf dem Gewissen haben, also ῾etwas getötet haben’ oder ῾etwas’ Ende herbeigeführt haben’. In diesem Falle sind die beiden Beziehungspartner die „Mörder“ ihres eigenen Glücks.

 Doch Kunzes Text ist nicht nur durch sein Spiel mit literarischen Vorbildern außerhalb der Schlagertradition und Sprichwörtern geprägt, sondern auch durch seine Verbindung zum Operetten-Hit Dein ist mein ganzes Herz. Mit dem direkten Zitat des Titels nimmt Kunze schon eines vorweg: Das grundlegende Gefühl, das die Herzenssprecher in beiden Liedern antreibt, hat sich in den dazwischen liegenden rund 80 Jahren Schlagertradition nicht geändert. Deswegen ist es für den NDW-Sprecher also nicht nötig, die gebetsähnliche titelgebende Formel des ewig und voll uns ganz Liebenden abzuwandeln. „Dein ist mein ganzes Herz“ wird von ihm als direktes Zitat im Refrain bei Kunze übernommen. Es passt noch immer, um sein Gefühl zu beschreiben.

Eine weitere Wendung aus Lehárs Operettenarie hat die Zeit überdauert. Kunze zitiert die zweite Zeile der Arie wörtlich: „Wo du nicht bist, kann ich nicht sein“. Diese nüchterne Feststellung hat für das 80er-Jahre-Ich ebenfalls nichts an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Ganz im Gegenteil: Aus dem Satz spricht unverschnörkelt das grundlegende menschliche Liebesdilemma zwischen erhofftem Zusammensein und aufgezwungener Trennung. Die Verneinung beider Satzteile rückt die Formulierung in die Nähe eines Bedingungssatzes, der eine Lebensnotwendigkeit des Sprechers ausdrückt; sein auch im Sinne von ῾existieren’. Ebenso drückt der Satz aus, dass es dem Sprecher schlicht nicht möglich ist, sich dort aufzuhalten, wo sich seine Geliebte befindet. Und das ist ja das Problem des Herz-über-Kopf-Verliebten. In die Satztektonik ist die Trennung schon eingeschrieben, das „ich“ im Relativsatz ist vom „du“ im Hauptsatz getrennt, sichtbar durch ein Komma.

Eine überzeitliche Universalgültigkeit von menschlichen Gefühlen legt auch der indirekte Verweis auf ein Zitat aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen – „Wohin gehen wir denn? – Immer nach Hause“ – bei Kunze nahe: „Wir sind wie alle andern, denn wir möchten heim“. Die ins Allgemeingültige abgleitende Feststellung wirkt als Bestätigung der Einsicht, dass die Suche nach Liebe und Geborgenheit eine Grundkonstante im menschlichen Leben ist („wir sind wie alle anderen“), auch oder gerade am Ende eines kriegsgebeutelten, beschleunigten 20. Jahrhunderts und in einer Zeit, da die letzten großen Utopien langsam bröckeln. Fast metakommentierend bemerkt das Sprecher-Ich: „[E]s ist fast nie zu spät das zu kapieren“. Das fast bringt Verunsicherung mit hinein. Diese ist der emotionalen Situation des Sprechers geschuldet, der ja erst am Ende seiner Beziehung „kapiert“, dass er darin eigentlich seine Erfüllung gefunden hatte und eben gerade in der Abwesenheit seines Gegenüber diesen Verlust deutlich spürt. Gewinnt er seine Partnerin nicht zurück, dann hat der Verzweifelte es eben doch „zu spät“ bemerkt.