Urians Reise um die Welt Gedicht

Matthias Claudius war 40 Jahre alt, als er 1779 sein berühmtestes Gedicht schrieb, das "Abendlied". Geboren im schleswig-holsteinischen Dorf Reinfeld, hatte der Pastorensohn das Bild der Landschaft seiner Kindheit mit kleinen Hügeln und Wäldern und Seen immer tief in seinem Herzen bewahrt, auch als er, nach Absolvierung der Lateinschule in Plön, in Jena Rechts- und Verwaltungswissenschaft studierte. Er "verbummelte" das Studium allerdings, folgte lieber seinen Schreibwünschen und wurde später Journalist, zunächst in Hamburg, dann im nahen Wandsbeck, wo der "Wandsbecker Bothe" erschien und Claudius diese vier Mal wöchentlich erscheinende Lokalzeitung zu einem der anspruchsvollsten intellektuellen Blätter Deutschlands machte. Im Stil der Zeit lautete das Programm:

"Ich bin ein Bothe und nichts mehr,
Was man mir gibt das bring ich her,
Gelehrte und polit’sche Mähr …
Von Zank, Erfindungen und Lehr,
Vom klein Verdienst und großer Ehr,
Von groß Verdienst und kleiner Ehr,
Und tausend solche Sachen mehr …"

Zu den "tausend Sachen" gehörte zum Beispiel die Meldung:

"Gestern hat … die Nachtigall zum erstenmal wieder geschlagen."

Daneben stand gleichrangig eine Rezension mit einer Verbeugung vor Goethes "Werther":

"Weiß nicht, obs’n Geschicht oder ’n Gedicht ist. Aber ganz natürlich geht’s her, und weiß einem die Tränen recht aus’m Kopf herauszuholen."

Die eigentümliche und überraschende Zusammenbringung im "Wandsbecker Bothen" von politischen Nachrichten aus ganz Europa mit Naturkunde-Beobachtungen, theologischen Betrachtungen, Gedichten und poetischen Essays begründete Claudius mit dem Hinweis, Worte seien zwar nur Worte, aber "wo sie gar leicht und behände dahin fahren, da sei auf Deiner Hut, denn die Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen langsameren Schrittes."

Urians Reise um die Welt Gedicht

Briefmarke der Deutschen Bundespost zur Erinnerung an den Schriftsteller und Dichter Matthias Claudius, (Imago/Schöning)

Ein äußerlich beschaulich-ruhiges Leben in Wandsbeck, und dann immer wieder die Aufbrüche im Kopf.

"Wenn jemand eine Reise tut,
So kann er was verzählen;
Drum nahm ich meinen Stock und Hut
und tät das Reisen wählen."

Das von Beethoven vertonte Gedicht "Urians Reise um die Welt" istneben den Versen des "Abendlieds" einer der nicht minder berühmten Texte von Matthias Claudius. Einerseits die Pracht des Schlichten, die Thomas Mann von Claudius’ "wunderlich schönen Gedichten"sprechen ließ, andererseits war die Vorstellung vom Tod immer als dunkle Unterstimme in seinen Texten vernehmbar. So besaß er bei all seiner Fähigkeit zur Gestaltung innerer Seelen- und Landschaftsbilder zugleich einen genauen Blick für die realen Weltläufte, und der Bayerische Erbfolgekrieg, den Friedrich der Große im Juli 1778 gegen die Habsburger anzettelte, fand in Wandsbeck einen klaren Kommentar:

"’s ist Krieg! S’ ist Krieg! O Gottes Engel wehre …"

Erst als der Krieg zu Ende war, konnte Claudius sein "Abendlied" schreiben:

"So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder! Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns Gott, mit Strafen
und lasst uns ruhig schlafen!
Und unseren kranken Nachbarn auch."

Als das "Abendlied" erschien, hatte die Zeitung "Wandsbecker Bothe" längst zu existieren aufgehört - trotz ihres überregionalen Renommees fand sie nur vierhundert Abonnenten und wurde deshalb eingestellt. Matthias Claudius, nun freier Autor, ordnete seine Manuskripte - viele unter dem Pseudonym "Asmus" geschrieben - und veröffentlichte seine gesammelten Werke unter dem Titel "Asmus omnia sua secum portans". Die letzten Lebensjahre waren überschattet von schwerer Krankheit. Vor seinem Tod am 21. Januar 1815 in Hamburg verabschiedete Matthias Claudius sich in einem Brief "an meine Leser":

"[Somit will ich Feierabend machen … [und zu guter Letzt noch einmal Hand geben]] … Man ist nur einmal in der Welt und ist nicht darin, ihr nach dem Sinn zu reden und Häckerlinge zu schneiden. Es schafft nicht, dass der Mensch mit niedergeschlagenen Augen sitze und sich räuspere und seufze; er soll die Augen frei aufschlagen und frisch und fröhlich um sich sehen … Gehabt Euch wohl."

http://freiburger-anthologie.ub.uni-freiburg.de/fa/fa.pl?cmd=gedichte&sub=show&noheader=1&add=&id=413

Vertont wurde das Gedicht nicht nur von Ludwig Berger und Beethoven, erschienen ist es 1786.

Urian ist bzw. war der fiktive Eigenname eines jeden Mannes, „vor welchem man wenig Achtung an den Tag legen will, besonders, wenn man seiner in einem Falle gedenkt, wo man ihn nicht erwartete“ (Adelung).

Herr Urian erzählt von einer Weltreise, die er unternommen hat; ein Chor (Tutti) kommentiert seine Erzählung nach jeweils vier Versen mit dem Refrain: „Da hat Er gar nicht übel dran getan; / Verzähl er doch weiter Herr Urian!“ (Das sind die Anmerkungen, die im Titel erwähnt werden – dort müsste „mit Anmerkungen“ kursiv gesetzt sein, was mir in diesem Blog technisch nicht möglich ist.) Herr Urian erzählt von seiner Reise zum Nordpol, nach Grönland, nach Amerika, Mexiko, Asien, China und Bengalen, Java, Otaheiti (eine der Gesellschaftsinseln) und Afrika. Überall stellt er sich jedoch dumm an, alles misslingt ihm oder er findet nichts Gutes – trotzdem fordert die dumme Menge (Tutti!), er solle weitererzählen. Schließlich ist das Fazit seiner Reise, dass er es überall so gefunden hat „wie hier,

Fand überall ’n Sparren, 


Die Menschen gradeso wie wir, 


Und eben solche Narren.“

Darauf, obwohl das die wesentliche Erkenntnis seiner Reise ist, ändern Tutti den Refrain und sagen zum Schluss:

„Da hat Er übel übel dran getan; 


Verzähl Er nicht weiter Herr Urian!“

Die Form ist einfach: Volksliedstrophe für Urians Erzählung (Jambus, Kreuzreim, Wechsel vier- und dreihebiger Verse mit männlicher und weinlicher Kadenz). Der Refrain ist im ersten Vers ein fünfhebiger Jambus, der zweite ist vierhebig mit unsauberem Takt.

Das Gedicht kann nur als Satire auf die Reise- und Entdeckungslust der frühen Neuzeit oder als Parodie der Reiseliteratur verstanden werden; das zeigt sich vor allem in der Reaktion der Menge auf einen nichtssagenden Reisebericht, vielleicht auch in der Verbform Verzähl er doch (statt Erzähl er doch). Verzählen bedeutete auch um 1800  falsch zählen; doch setzt es die plattdeutsche Form vertelle ins Hochdeutsche, wodurch die Tutti entweder als dumme Menschen vom Land oder als solche, die an platten Verzellcher ihre Freude haben, ausgewiesen werden. Jedenfalls gehört die Reaktion der Tutti (neben dem Namen Urian) wesentlich zur Satire. Vielleicht ist der Titelzusatz „mit Anmerkungen“ bereits der erste Hinweis auf den satirischen Charakter des Gedichts; denn was die Tutti als „Anmerkungen“ von sich geben, sind ja beileibe keine Anmerkungen! Adelungs Wörterbuch verzeichnet als dritte Bedeutung von „Anmerkung“: „die Erläuterung einer dunkeln Stelle in dem Hauptsatze; Scholion. Ein Buch mit Anmerkungen heraus geben. Anmerkungen zu einer Schrift machen“. Aber selbst in der alltäglichen Bedeutung (Anmerkung = Bemerkung) wären die Anmerkungen reichlich deplatziert: Satire! – Der Eingangsvers ist eine Redewendung geworden („Wenn jemand eine Reise tut …“), die heute ohne jeden ironischen Beigeschmack gebraucht wird, oft als Kommentar zu unerwarteten Reiseerlebnissen.