In welchem land werden die geschenke durch offene fenster ins haus geworfen?

Eine Geschichte über viele Mütter, Kinder und einen Vater. Darüber, daß sie sich abkühlen, um sich aneinander wieder wärmen zu können. Notizen auch über frischgeschälte Apfelsinen und Qualm aus Räuchermännchen.

Wir wollen das Dorf nicht wecken. Es schläft das ganze Jahr, in die Tage hinein und aus den Tagen heraus, mit offenen Augen. Was auch geschieht – ob ein Traktor lärmend den Weg über die breite, gepflasterte Straße auf den Acker nimmt, ob in der Nähe der Stallungen ein Pferd durchgeht oder die Angler vom Verein beim Bier im ehemaligen Gutshaus randalieren – die Ereignisse fügen sich in den Schlaf, und sind deshalb nie sehr laut oder gewaltig. Wären sie es, könnte das Dorf womöglich erwachen.

Wir geben unseren Autos kaum Gas, als wir ankommen, rollen fast lautlos durch die Stille, an deren Ende, kurz bevor die Straße in karges, gefrorenes brandenburgisches Land taucht, Weihnachten sein wird. In den Fenstern der Häuser links und rechts hängen dichte Gardinen. Die Bewohner haben kleine Lichter angezündet und lassen ihre Schatten über die bunten Stoffe gleiten.

Man deckt die Tische, steckt Kerzen auf die Bäume in den Zimmern, trinkt Tee. Wir verfolgen die dunklen Gestalten mit den Augen und bewegen uns mit ihnen auf das Fest zu.

In dem Haus am Ende der Dorfstraße, in dem wir immer über die Feiertage wohnen, steht ein Radiorekorder. Vergangenes Jahr haben wir die Weihnachtsliederkassette stecken lassen. Jemand drückt die Taste.

Sie knirscht unter den frostigen Temperaturen, unter denen das Haus auf uns gewartet hat. Erwartungsvoll lauschen wir darauf, daß die Kassette das Fest der Liebe besingt.

Wohin mit der Liebe. Jemand hat einst gesagt: „Weit weg.“ Es war, glaube ich, Arthur. Er sprach diesen Gedanken aus, als hätte er vor, sich mit ihm zugleich all seiner vergeblichen Hoffnungen zu entledigen. Er ließ die Worte einfach so fallen, sie landeten auf dem Boden, dort, wo Arthur eben noch gestanden hatte, und wohin er zurückkehren würde, nachdem er mit drei, vier Schritten das Fenster erreicht und einen flüchtigen Blick in den bedeckten Winterhimmel geworfen hatte.

Dann würde er sich bücken, um doch noch einmal nach seinen Hoffnungen zu greifen. Aber während er den Oberkörper langsam nach unten beugte, würde er sich wieder der Vergeblichkeit seiner Bemühungen bewußt werden und schließlich nur mit den Fingern über die verdreckten Spitzen seiner Schuhe wischen.

Wenn es nicht Arthur gewesen ist, der es gesagt hat, dann war es vielleicht Klara oder Hans oder auch ich. Im Grunde dachten wir alle dasselbe: Woanders ist Weihnachten anders. Schließlich wandte jemand ein: „Aber nicht so weit, daß bei Glatteis die Autofahrt zur Qual wird.“ Eben das verstehen wir unter dem Frieden, nach dem wir uns sehnen: sich ohne Mühe entfernen zu können.

Wir fahren wie immer Kolonne. Im ersten Auto sitzt Lotte mit der Wegbeschreibung. Lotte kann sich nicht orientieren, findet keine Wege, aber sie macht das Tempo. Nicht nur im Auto, sondern überhaupt. So hat sie immer das gute Gefühl, sich verausgabt, vor allem aber den Verlauf der Ereignisse bestimmt zu haben. Sie registriert Zeit nur in dem Maße, wie sie vergeht. Das ist eine heilsame Art, mit dem Leben umzugehen. Jeder, der Lotte kennt, hat sich schon einmal von ihr anstecken lassen.

So erinnere auch ich mich nicht, wer und wie die Männer waren, die sie in den letzten Jahren von ganzem Herzen geliebt hat. Ich weiß nur, wann sie mit Sack und Pack kamen, wann sie ihren Krempel wieder aus Lottes Schränken räumten und vor allem, wieviel Zeit dazwischen verging. „Mit der Zeit vergeht alles“, sagt Lotte, optimistisch und niedergeschlagen zugleich. Wer sie gern hat, richtet sein Tempo nach ihr aus, vor allem Weihnachten, denn das ist das wertvollste Geschenk, das man ihr machen kann.

Auf der Landstraße fährt sie neunzig. Arthur, im Auto hinter ihr, blinkt mit den Scheinwerfern und gähnt mit weit aufgerissenem Schlund, wenn Lotte in den Rückspiegel blickt. „Ich find' dich scheiße“, sagt auf dem Rücksitz die siebenjährige Zita, die Arthur zwar verblüffend ähnlich sieht, ihn jedoch beim Vornamen nennt, wenn er sie hin und wieder von ihrer Mutter ausgeborgt bekommt. „So richtig scheiße“, fügte sie hinzu. „Soll ich deine Kassette reinlegen?“ fragt Arthur harmoniesüchtig, obwohl er Tic Tac Toe nicht erträgt. Er fingert am Autoradio herum, was bei der Geschwindigkeit für ihn kein Problem ist. Als die Musik beginnt, nickt er gar den Kopf im Rhythmus.

Ich kenne Arthur nur von den Wochenenden, an denen er, Zita im Schlepptau, bei mir vorbeischaut. Die beiden sitzen in hoffnungsloser Erwartung auf meinem Sofa, und ich kann sagen, was ich will, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie brauchen mich, um zusammensein zu können. Ich lege sozusagen die Leitung, die Arthur vor mehr als vier Jahren zerrissen hat, als er seinen Krempel von Zitas Mutter trennte. Manchmal stelle ich auch nur die Keksdose auf den Tisch.

Zita klappt den Deckel auf, drinnen liegt das Gebäck noch so, wie sie es hinterlassen hat. Sie nimmt ein Stück, beißt hinein und reicht es, so als schmecke es nicht, an den Vater weiter. „Mensch, was soll ich denn damit?“ fragt Arthur, und das Mädchen zuckt mit den Schultern. Arthur will immer der Vater sein, also entweder Antworten geben oder bekommen. Im Grunde aber verbindet ihn und seine Tochter das, was sie beide nicht wissen.

An den meisten Tagen, wenn Zita nicht bei ihm ist, kenne ich Arthur nicht. So wie wir alle. Wir telefonieren mit ihm, sind aber nicht im Bilde, wissen nicht, was ihn bewegt und ob er sich überhaupt bewegt, und wenn er nichts erzählt, sagen wir, dann ist ihm auch nicht zu helfen.

Arthur ist der Rest einer Freundschaft zwischen seiner kleinen Familie und uns. Als Hinterbliebener fühlt er sich unvollständig auf der Welt, weswegen er sie nicht mehr betritt. Lediglich mit Zita wagt er sich aus seiner Wohnung hinaus. Er kommt zu mir, wir unternehmen was, und er schafft es, in den wenigen Stunden gerade soviel Kraft zu sammeln, wie er braucht, um in den Wochen darauf, unter Ausschluß der Wirklichkeit, seine störrischen Hoffnungen gegen uralte Erinnerungen einzutauschen. Arthur mag Lotte nicht, er kann sie, wie er sagt, nicht leiden, was daran liegen muß, daß Lotte ihn nicht hinnimmt, so wie zum Beispiel ich es tue, sondern er ihr folgen muß.

Klara wiederum würde Arthur sogar überall mit hinnehmen. Sie fährt mit ihrem alten Golf dicht auf und riskiert, bei Arthurs Beschleunigungs- und Bremsmanövern, mit denen er Lotte auf über hundert zu treiben versucht, einen Unfall. Dabei hat Klara schon einen Unfall gehabt: mit Hans. Die beiden haben fast drei Jahre zusammengelebt, aber jetzt sitzt Hans neben mir im Auto, und da bleibt er. Wir haben zwei Söhne, die seiner Großmutter väterlicherseits sehr ähnlich sehen.

Manchmal denke ich, Klara kommt nur zur Beobachtung mit in die Weihnachtsferien. Sie pflegt diesen scheelen Blick, zu dem sie sich nie bekennen würde, weil sie weder als eingeschnappt noch als schwach gelten will. Sie blickt durch mich hindurch auf Hans, was mir nichts anderes bedeutet, als daß ich zwischen ihnen stehe.

Klara hat die dreijährige Tanja, die im Auto vorn sitzt, weil Klara sie nicht nach hinten bekommt. Sie bekommt sie nirgendwohin, das Machtverhältnis zwischen den beiden ist verkehrt: Die Tochter hat von der Mutter Besitz ergriffen, denn nie gab es jemanden, der sie ihr streitig gemacht hat. Wenn Klara von Tanjas Anweisungen erschöpft ist und weint, fragt sie sich ernsthaft, ob sie doch nicht hätte ein Kind ohne Vater bekommen sollen.

Ich weiß nicht. Jedes Jahr, wenn Klara und ich zusammen den Weihnachtsbaum schmücken, wenn wir Bänder durch bunte Papierschnipsel ziehen, die wir zuvor mit den Kindern zurechtgebastelt haben, und uns immer wieder gegenseitig bestätigen, wie sehr wir uns das ganze Jahr auf diesen Moment gefreut haben, kommt sie mir verändert vor. Zum einen liegt das an ihrer Kleidung. Nicht nur, daß sie jedesmal einer neuen Mode erliegt, sie kleidet sich auch immer anders. Während unserer ersten Weihnachtsreise zog sie sich andauernd um, trug kurze Röcke, Ketten und beim Spazierengehen anstelle einer Jeans mehrere Strumpfhosen übereinander. Das Jahr darauf reiste sie in Sportsachen an.

Das Mehl vom Plätzchenbacken am Vorweihnachtsabend klebte ihr noch am zweiten Feiertag zwischen den Schenkeln. Karla joggte morgens und abends durchs Dorf in den entfernt gelegenen Wald und begleitete unsere festlichen Mahlzeiten mit einer die allgemeine Stimmung senkenden Kartoffeldiät. Letztes Weihnachten hingegen hatte sie schon wieder einiges zu verhüllen, die Pullover waren lang, und niemand, der sie essen sah, zweifelte daran, daß das Übergewicht gewollt war.

Zum anderen ist Klaras Freude am Fest jedesmal eine andere. Es scheint, als hätten wir es bei ihrer Weihnachtsstimmung mit Gezeiten zu tun, mit einem von ihr und uns unbeeinflußbaren Wechsel von Leere und Tiefe sowie den damit verbundenen Erwartungen auf Veränderung. Klara erliegt dem Leben.

Mitunter, wenn Lotte an ihr vorbeizieht, sei es mit einem Gedanken wie: „Du solltest einfach mal versuchen, mit dir allein zu sein“, ergreift Klara die Flucht vor den Gewalten und redet sie klein. „Das brauche ich nicht zu versuchen, weil ich es längst kann“, antwortet sie.

Ich weiß nicht. Früher dachte ich, die Liebe kommt und bleibt. Ich erwartete sie. Das zog sich hin, und in ihrer Abwesenheit wurde sie größer und gewaltiger, so daß ich nicht merkte, als sie da war: klein und gewaltlos. Sie war auf gewöhnliche Weise nicht erkennbar, weder zu sehen noch zu hören, noch zu riechen. Ich konnte sie nicht mal fassen, und was man nicht fassen kann, kann man auch nicht feiern.

Immer, wenn ich mir der Liebe bewußt werde, weiß ich: Es ist vorbei mit ihr.

Wir parken die Autos und tragen unsere Weihnachtsstimmung ins Haus. Lotte schleppt im gleichen Tempo, in dem sie eben noch Auto gefahren ist, vorgekochtes Chili herein. Klara verstaut Plastetüten mit Geschenken im Schrank, so unauffällig, daß jeder es sieht und sich freuen kann. Wir setzen uns. Öffnen eine Flasche Sekt. „Ach, ja!“

So beginnt Weihnachten schon wieder zu vergehen. Es zieht aus dem Mund des Räuchermännchens zu uns herüber und verzieht sich durch die Tür, die aufgeht, wieder zuschlägt und erst zur Ruhe kommt, wenn auch wir zur Ruhe gekommen sind.

Weihnachten duftet wie eine frischgeschälte Apfelsine und verduftet bereits am Vormittag in der ersten Zigarette von vielen. Es legt sich auf uns, schwere Luft eines überheizten Zimmers, wir ziehen uns warm an und spazieren durch den kalten Winter, kühlen uns ab, um uns kurz darauf wieder aneinander wärmen zu können. Weihnachten schlägt auf den Magen, wir essen so lange an dem Kartoffelsalat, bis wir ihn satt haben für genau ein Jahr.

Am heiligen Morgen wartet der Kremser vor der Tür, später als verabredet, weil wieder eines der Pferde durchgegangen ist. „Ein Alptraum“, erklärt der alte Kutscher. Wir hüllen uns in Decken und frieren trotzdem, dagegen hilft ein Lied, sagt eine Stimme unter einer der Decken. Ich glaube, es ist Arthur, egal, im Grunde denken wir alle dasselbe. Wir singen: „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald...“

Ein anderes Lied ist uns aus der Zeit, die wir für Feste wie diese in uns konserviert haben, nicht geblieben. Wir haben es als Pioniere gesungen. Die Jungen mit ihrem Stimmbruch standen hinten in der Klasse und sollten nur den Mund bewegen. Wir Mädchen, vorn stehend, spürten sie im Rücken wie eine Verheißung. Damals, als wir noch dachten, daß die Liebe eines Tages zu uns kommt und wir sie feiern würden. „Und wir lieben die Heimat, die schöne“, stimmt der alte Kutscher leidenschaftlich ein, „und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehööört!“

Nadja Klinger schreibt regelmäßig in der taz. Ihr Buch „Ich ziehe einen Kreis“ erschien jüngst im Alexander Fest-Verlag, Berlin 1997, 34 DM