Wenn nicht mehr zahlen und figuren interpretation

Heute geht es wieder mit einem richtigen Klassiker weiter. Ich glaube, jeder durfte in der Schule mal ein Gedicht von Novalis analysieren und ‚Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren‘ ist für Schüler gerade deshalb reizvoll, weil es enorm kurz ist und die metrische Analyse so einfach von der Hand geht und man als Lehrer super überprüfen kann, ob die Schüler das mit der Metrik verstanden haben. Aber bevor es weitergeht, erstmal das Gedicht zum Mitlesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/heinrich-von-ofterdingen-5235/26 (Der erste ‘Einschub’)

Warum ist gerade dieses Gedicht so für den Schulunterricht prädestiniert? Man kann an diesem Gedicht alles erklären, was die Romantik typischerweise ausmacht, man kann mal eine metrische Analyse gut durchführen und sie ist auch noch etwas spannend und ergiebig und schließlich ist das Gedicht gut verständlich und verhältnismäßig einfach zu durchdringen. Es stammt aus einem Romanfragment, in das es eingebunden ist. Fangen wir also am Anfang an:

Zwölf Verse haben wir, die ersten zehn sind sehr regelmäßig im Paarreim, weibliche Kadenz (also Ende auf unbetonter Silbe), das Versmaß ist durchweg jambisch, auf eine unbetonte Silbe folgt also jeweils auf eine Betonte. Eine Ausnahme, die aber in den von mir gelesenen Analysen vernachlässigt wurde, ist die zusätzliche Silbe in Vers 6. Nur in den letzten beiden Versen ändert sich das Versmaß. Diese enden auf einer betonten Silbe und beide Verse weisen eine zusätzliche Silbe auf.

Was hat das zu bedeuten? Diese beiden letzten Verse, schließen eine semantische Phrase, sie sind, mit einem ‚dann‘ eingeleitet das Gegenstück zur eingeleiteten ‚wenn‘-Phrase. Das ganze Gedicht ist also ein einziger, riesiger Konditionalsatz. Und auch inhaltlich ist das Gedicht relativ einfach durchschaubar, zumindest aus dieser, sehr populären Interpretationsperspektive, die auch ich kurz skizzieren möchte:

Das Gedicht ist eine Absage an den strengen Rationalismus der Aufzählung (Zahlen & Figuren, Tiefgelehrten) und spricht sich dafür aus, den Emotionen, der Empfindsamkeit und der Fiktion mehr Raum zu geben. Dabei werden typische Aufklärungsmetaphern (Licht!) den romantischen Motiven (Schatten, vgl. Schauerromantik, dunkle Romantik (E.T.A. Hoffmanns Sandmann beispielsweise)). Wenn also diesen Empfindungen mehr Raum gegeben wird, dann verpufft die Wissenschaft und der wirkliche Zugang zur Welt wird ermöglicht. Ein bisschen seltsamer sind die letzten Verse, was soll dieses geheime Wort, was ist das verkehrte Wesen? Es geht um eine Art Zauberwort, ein magisches Wort – aber möglicherweise auch das Wort eines romantischen Dichters? Das verkehrte Wesen könnte dann der die Welt verstehende Wissenschaftler werden.

Heutzutage haben wir diese Position längst überwunden, Rationalismus und Subjektivität sind schon lange keine Gegensatzpaare mehr, aber dieses Plädoyer für den freien Geist und die Emotionen als gleichwertiges Prinzip neben der Rationalität, für ein Nebeneinander von Emotion und Wissenschaft ist für seine Zeit (1800 entstand das Gedicht) etwas sehr modernes und ist auch etwas programmatisches für die nächsten Jahrzehnte. Ich habe in einer Analyse gelesen, das Gedicht sei so etwas wie das Glaubensbekenntnis der Romantiker. Das würde ich so vielleicht nicht unterschreiben, aber der programmatische Charakter ist schwer zu verhehlen.

Ich mag das Gedicht recht gerne, es ist ein kleines, hübsches Gedicht, das einen wichtigen und für die nächsten Jahrzehnte prägenden Gedanken aufwirft. Und auch wenn es inzwischen schon zu Tode analysiert wurde, wird es bestimmt noch einige Generationen überdauern.

Wenn nicht mehr zahlen und figuren interpretation

Wenn nicht mehr zahlen und figuren interpretation

Erst mal selbst probieren? 10 Tipps f�r bessere Gedichtinterpretationen.

Zum formalen Aufbau des Gedichts: Die Verse sind paargereimt mit Senkung am Schluss (weibliche, klingende Kadenz). Ausnahme: Die beiden letzten Verse, die mit einer Hebung enden (m�nnliche, stumpfe Kadenz). Diese Trennung zeigt sich auch in den Schlusskonsonanten: Die weiblichen Schl�sse enden alle auf dem weichen n, die m�nnlichen auf das harte t. Bei den weiblichen Endungen sorgen die Wechsel der Vokale der vorletzten Silbe, die betont ist, mitsamt der folgenden Variationen bei den Konsonanten f�r Abwechslung. Das Versma� ist jambisch, also steter Wechsel zwischen Senkungen und Hebungen beginnend mit einer gesenkten Silbe. Auch hier bilden die letzten beiden Zeilen wieder eine Ausnahme, da sie jeweils eine zweisilbige Senkung zulassen. Schema der Schlusszeilen: xXxXxxXxX / xXxxXxXxX. Die formale Abtrennung der beiden Schlusszeilen korrespondiert mit der inhaltlichen, denn hier wird die Schlussfolgerung mit �Dann� gezogen.

Man k�nnte dieses Gedicht als Glaubensbekenntnis der Romantiker bezeichnen. Romantiker waren nicht in dem Sinne romantisch, wie wir das Wort heute verstehen, obwohl sie nat�rlich auf diese Art der Romantik nicht verzichten haben. Romantik als eine Str�mung in der Literatur Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts basierte auf dem Gedanken, dass es mehr auf der Welt gibt als als Rationalit�t und Vernunft, mehr als �Zahlen und Figuren�. Wahrheit ist nicht nur durch Forschung der �Tiefgelehrten� zu entdecken, sondern auch in �M�rchen und Gedichten�. �Licht und Schatten� bedingen einander wie Tag und Nacht. Ausf�hrlich hat dies August Wilhelm Schlegel dargestellt:

�Auch unser Gem�t teilt sich wie die �u�ere Welt zwischen Licht und Dunkel, und der Wechsel von Tag und Nacht ist ein sehr treffendes Bild unseres geistigen Daseins. [...] Der Sonnenschein ist die Vernunft als Sittlichkeit auf das t�tige Leben angewandt, wo wir an die Bedingungen der Wirklichkeit gebunden sind. Die Nacht aber umh�llt diese mit einem wohlt�tigen Schleier und er�ffnet uns dagegen durch die Gestirne die Aussicht in die R�ume der M�glichkeit; sie ist die Zeit der Tr�ume.

Einige Dichter haben den gestirnten Himmel so vorgestellt, als ob die Sonne nach Endigung ihrer Laufbahn in alle jene unz�hligen leuchtenden Funken zerst�be: Dies ist ein vortreffliches Bild f�r das Verh�ltnis der Vernunft und Phantasie: In den verlorensten Ahnungen dieser ist noch Vernunft; beide sind gleich schaffend und allm�chtig, und ob sie sich wohl unendlich entgegengesetzt scheinen, indem die Vernunft unbedingt auf Einheit dringt, die Phantasie in grenzenloser Mannigfaltigkeit ihr Spiel treibt, sind sie doch die gemeinschaftliche Grundkraft unseres Wesens.�

August Wilhelm Schlegel, Allgemeine �bersicht des gegenw�rtigen Zustandes der deutschen Literatur, zitiert nach Lothar Pikulik: Fr�hromantik. Epoche � Werke � Wirkung, C. H. Beck, M�nchen 1992

Autor: Hans-Peter Kraus (Kontakt)
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Interpretationen im Web:

Beim Poetischen Stacheltier findet man eine wesentlich ausf�hrlichere Interpretation mit Darlegung der formalen Merkmale und einer Schritt-f�r-Schritt-Analyse der Wenn-Dann-Beziehungen.

Was kritisiert Novalis in Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren?

Das von Novalis verfasste Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ erschien im Jahr 1802. Er ist ein bekannter Vertreter der Frühromantik. Das Gedicht kritisiert die Wissenschaft und den Gebrauch des reinen Verstandes.

Was meint Novalis mit Zahlen und Figuren?

Direkt zu Anfang seines Gedichtes findet sich ein Bezug zur Aufklärung: „Wenn nicht Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen“ (V. 1 – 2). In diesen Versen kritisiert Novalis das Weltbild der Aufklärung, in dem Rationalität und Wissenschaft („Zahlen und Figuren“) alleinige Wege zum Inneren der Menschen bilden.

Was ist das geheime Wort Novalis?

Die Ausdrücke geheimes Wort und Zauberwort gehören zu einem Feld von Ausdrücken, die bei Novalis an verschiede- nen Stellen zur Kennzeichnung des geheimnisvollen Charakters höherer Erkenntnis verwen- det werden. Zu diesen Ausdrücken gehören die Wörter Chiffre, Hieroglyphe und Figur.