Was will Dürrenmatt mit dem Besuch der alten Dame sagen?

Das Drama "Der Besuch der alten Dame" des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt wurde im Jahr 1956 geschrieben und im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Bereits kurz danach wurde es zu einem Welterfolg. Das Stück zählt zu den meistgespielten deutschsprachigen Theaterstücken.

Der "Besuch der alten Dame" spielt in einer fiktiven Kleinstadt namens Güllen, in der Nähe der schweizerisch-französischen Grenze. Die Menschen der kleinen Stadt sind verarmt und finden keine Arbeit. Als die Milliardärin Claire Zachanassian in die Stadt kommt, hoffen die Bewohner auf eine bessere Zukunft.

Diese bietet tatsächlich eine Finanzspritze an, doch sie stellt eine Bedingung: Ihr Ex-Geliebter Alfred Ill soll sterben. Obwohl die Bewohner anfangs noch entrüstet auf die Forderung reagieren, wird es für den Totgeweihten immer gefährlicher in dem Ort.

Die "Finanzspritze" ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für eine finanzielle Unterstützung, meist bei Unternehmen oder sogar einem Staat. In diesem Fall ist damit die Kleinstadt Güllen gemeint.

"Der Besuch der alten Dame" – Inhalt und Zusammenfassung

Akt 1 – Claires Ankunft und ein unmoralisches Angebot

In ihrer Jugend wird Klara Wäscher von ihrem damaligen Freund Alfred III schwanger. Als dieser die Vaterschaft jedoch leugnet, kommt es zu einem Gerichtsprozess. Alfred kann diesen für sich gewinnen, da er die aussagenden Zeugen besticht. Daraufhin verlässt Klara die kleine Stadt Güllen und ist nicht nur verarmt, sondern aufgrund der damaligen Gesellschaftsverhältnisse entehrt.

Klara verliert ihr Kind, wird zu einer Prostituierten und lernt später einen Ölquellenbesitzer kennen, den sie dann heiratet. Dadurch erbt sie ein riesiges Vermögen und es folgen noch weitere Ehen. Später beschließt die Milliardärin, ihren Namen zu ändern und nennt sich fortan Claire Zachanassian. 45 Jahre später, in einem bereits hohen Alter, beschließt Claire, nach Güllen zurückzukehren. Die Kleinstadt ist nicht wiederzuerkennen – verschmutzt, verarmt und verkommen. Alfred, ihr Liebhaber aus ihrer Jugend, ist inzwischen 70 Jahre alt.

Claire bringt ihren siebten Ehemann und einen Sarg mit. Die Bewohner und der Bürgermeister sind sehr aufgeregt und erfreut über ihren Besuch, da sie sich durch Claire finanzielle Unterstützung für die Kleinstadt erhoffen. Um sie gebürtig zu empfangen, veranstaltet die Stadt ein Begrüßungsfest für sie. Daraufhin verspricht die Milliardärin, Güllen mit einer Milliarde zu helfen. Jedoch spricht sie eine Bedingung aus: Sie will Gerechtigkeit und setzt ein Kopfgeld auf Alfred III aus. Der Bürgermeister lehnt das aus moralischen Gründen entsetzt ab.

Akt 2 – Das große Warten und die Aussicht auf Wohlstand

Alfred ist überzeugt, sich auf die Bewohner Güllens verlassen zu können, bis er allmählich bemerkt, dass sich seine Nachbarn und Freunde immer häufiger teure Luxusgüter leisten. Auch in seinem Laden wird häufiger eingekauft, wobei vor allem die teureren Produkte nicht bezahlt, sondern angeschrieben werden. Alfred wird klar, dass die Güllener erst dann bezahlen können, wenn sie auf Claires Bedingung eingehen und ihn töten.

Als Alfred immer verunsicherter wird und es mit der Angst zu tun bekommt, stattet er der Polizei einen Besuch ab. Zu seinem Entsetzten muss er feststellen, dass auch der Polizist teure Kleidung trägt. Dieser versichert Alfred, dass er nichts zu befürchten habe, da er noch immer in einem Rechtsstaat lebe.

Die Angst Alfreds ist damit aber noch lange nicht beseitigt. In seiner Verzweiflung geht er zum Bürgermeister, den er, ähnlich wie den Polizisten, in teurer Kleidung vorfindet. Auch der Bürgermeister versichert Alfred, dieser sei in Sicherheit. Dennoch sieht der Bürgermeister die Schuld bei Alfred, da dieser Claire Unrecht getan habe.

Schließlich wendet sich Alfred an den Pfarrer. Dieser legt ihm nahe, die Stadt zu verlassen. Alfred will dem Rat des Geistlichen folgen, doch auf dem Bahnsteig des Bahnhofs gibt er diesen Plan auf. Er fürchtet, die Güllener, die ihm gefolgt sind, könnten ihn ermorden, falls er fliehen sollte.

Akt 3 – Claires Rache und der gerechte Mord

Der Lehrer und der Arzt versuchen Claire, von ihrem Plan abzubringen und schlagen stattdessen vor, eine Firma der Stadt aufzukaufen und zu sanieren. Doch Claire hat die Menschen der Stadt in der Hand. In Vorbereitung an den Mord hatte sie die Güllener Firmen und Grundstücke in der Vergangenheit aufgekauft und die Stadt allmählich in den Ruin getrieben. Die Versuche des Lehrers und des Arztes, an Claires Menschlichkeit zu appellieren, laufen ins Leere.

In Alfreds Geschäft treffen sich die Güllener nun regelmäßig. Sie wollen ihn um jeden Preis davon abhalten, irgendjemandem von außerhalb die Wahrheit über die Ereignisse in der Stadt zu erzählen, da sie um ihren Wohlstand fürchten. Die Stimmung in der Stadt ändert sich zusehends. Einige Bewohner fangen an, Alfreds Verhalten der vergangenen Jahre zu verurteilen. Der Todgeweihte erkennt seine Schuld an und sieht ein, dass er Claire Unrecht getan hat.

Die Feindschaft und die Distanz zwischen Alfred und den restlichen Bürgern wächst stetig. Dies gipfelt darin, dass der Bürgermeister Alfred, mit einem Gewehr bewaffnet, besucht. Er bittet ihn darum, sich selbst das Leben zu nehmen. Alfred lehnt dies aber ab.

Die Einwohner der Stadt berufen eine Versammlung ein, auf der über Alfreds Schicksal entschieden werden soll. Die Bürger sind sich einig, dass er für seine Tat bestraft werden sollte. Als Alfred bei der Stadtversammlung eintrifft, bilden die Mitbürger eine Gasse um ihn. Jedoch geht plötzlich das Licht aus und als der Raum wieder erleuchtet ist, liegt Alfred tot am Boden. Der Arzt der Stadt gibt als offizielle Todesursache einen Herzinfarkt an.

Die Millionärin Claire lässt den toten Alfred in den Sarg legen, welchen sie am Anfang bei ihrer Rückkehr mitgebracht hatte. Sie übergibt dem Bürgermeister den versprochenen Scheck über die vereinbarte Summe und verlässt daraufhin die Stadt. Claire reist auf die Insel Capri, wo Alfred neben ihrem gemeinsamen Kind begraben wird.

"Der Besuch der alten Dame" – Die wichtigsten Figuren

Was will Dürrenmatt mit dem Besuch der alten Dame sagen?
Figurenkonstellation in "Der Besuch der alten Dame"

Claire Zachanassian

  • Claire hieß früher Klara Wäscher.
  • Sie ist 62 Jahre alt.
  • Sie fällt durch ihre groteske Erscheinung auf: ihre roten Haare, die vielen Prothesen und ihr merkwürdiges Gefolge sorgen für Aufmerksamkeit.
  • Sie ist skrupellos, egoistisch und bleibt starr und unveränderlich.
  • Claire wird in ihrer Jugend von Alfred III geschwängert und verlässt die Stadt verarmt und entehrt.
  • Dennoch schafft sie es, eine vermögende Frau zu werden.
  • Sie hat keine Skrupel, dieses Geld einzusetzen, um Rache an Alfred zu üben.
  • Hierfür kauft sie alle Firmen und Grundstücke von Güllen auf und treibt die Stadt allmählich in den Ruin.

Alfred III

  • Ist ein armer Mann aus Güllen und verheirateter Vater zweier Kinder.
  • Alfred ist in der Stadt hoch angesehen, hat aber eine düstere Vergangenheit.
  • Er konnte die Vaterschaft von Klaras ungeborenem Kind vor Gericht durch Bestechung abstreiten.
  • Durch das Angebot von Claire wird er zunehmend ängstlicher. Die restlichen Bürger distanzieren sich von ihm.
  • Alfred beginnt, über seine Vergangenheit nachzudenken und seine Fehler einzugestehen.
  • Er versteht und akzeptiert das ihn erwartende Todesurteil am Ende.

Der Bürgermeister

  • Der Bürgermeister steht anfangs hinter Alfred und lehnt das Angebot von Claire ab.
  • Mit der Zeit wandeln sich seine Vorstellungen und das Geld, sowie auch die Meinungen der Bewohner, lassen ihn seine moralischen Werte vergessen.
  • Schlussendlich schlägt er Alfred offen den Selbstmord vor.
  • Nach dem Tod Alfreds nimmt er den Scheck von Claire entgegen.

Der Lehrer

  • Ist gebildet und verfügt über eine gehobene Wortwahl.

  • Er ist stolz, Lehrer zu sein.

  • Der Bürgermeister, der Polizist und der Pfarrer sind seine Freunde.

  • Er ist gern in Gesellschaft.

  • Er findet Claires Angebot und das Verhalten der Güllener unmoralisch und unterstützt Alfred.

  • Bei der Versammlung hält er jedoch eine Rede, in der er den Tod von Alfred befürwortet.

"Der Besuch der alten Dame" – Analyse von Aufbau und Sprache

Friedrich Dürrenmatt orientiert sich in "Der Besuch der alten Dame" an dem klassischen Aufbau einer Tragödie. Die drei aristotelischen Einheiten werden zum Teil erfüllt. So spielt die Handlung nur in der Kleinstadt Güllen und erstreckt sich über ein paar Tage.

Es gibt eine Haupthandlung bzw. einen Konflikt, der im Vordergrund steht: Claires Forderung nach dem Tod von Alfred III und den Umgang der Bewohner Güllens damit. Allerdings besteht das Stück nicht nur aus einem Strang, wie es einer Tragödie zu eigen ist. Auch entspricht die Unterteilung in drei Akte nicht dem klassischen Dramenaufbau von fünf Akten.

Die drei aristotelischen Einheiten

Dabei handelt es sich um die Prinzipien, die vom griechischen Philosophen Aristoteles für den Aufbau von Dramen festgelegt wurden. Die "Einheit der Zeit" meint, dass sich die Handlung nicht über einen längeren Zeitraum erstreckt, sondern innerhalb von ein paar Tagen. Die "Einheit des Ortes" besagt, dass die Handlung an einem Ort stattfindet und es keine Nebenschauplätze gibt. Die "Einheit der Handlung" gibt eine Haupthandlung ohne Nebenhandlungen vor.

Der erste Akt – Exposition

Der erste Akt stellt die Exposition dar. Hier werden die Stadt Güllen und deren Bewohner vorgestellt und Claires Vergangenheit enthüllt. Außerdem setzt hier das erregende Moment ein, als Claire den Bewohnern der Stadt ihr Angebot unterbreitet.

Als Exposition wird der Anfang einer Geschichte bezeichnet. Dort werden Figuren und Schauplätze vorgestellt. Als erregendes Moment wird die Handlung bezeichnet, die den Konflikt einleitet.

Der zweite Akt – Wendepunkt

Im zweiten Akt steht das Warten Claires und der Wandel der Güllener im Mittelpunkt, die nach und nach die Moral in den Wind schlagen und nach einer Rechtfertigung für Alfreds Tod suchen. Die Handlung und die Spannung steigen und fallen. Am Ende des zweiten Aktes wird deutlich, dass die Einwohner Güllens ihre Einstellung zu Claires Angebot geändert haben und Alfred sieht ein, dass er seinem Schicksal nicht entkommen kann. Das stellt den Wendepunkt in der Geschichte dar.

Als Wendepunkt wird der Moment bezeichnet, in welchem sich etwas Grundlegendes in der Geschichte ändert. Ab diesem Moment nimmt die Handlung einen anderen Verlauf.

Dritter Akt – Katastrophe

Im dritten Akt wird gezeigt, wie die Bewohner Güllens Alfreds Tod herbeiführen. Es gibt einige Szenen, die das Geschehen verlangsamen, also retardieren. Dazu gehören Alfreds Abschied von Claire, sowie von seiner Familie. Die Ereignisse spitzen sich immer weiter zu. Die Moral wird von dem Wunsch nach Wohlstand verdrängt, womit die Katastrophe eingeläutet wird und Alfred Ill. stirbt.

Retardieren bedeutet, dass etwas verzögert wird. Die Handlung wird durch etwas unterbrochen.

Sprache

Dürrenmatt arbeitet mit Vorausdeutungen und verschleiert Aussagen. Daher wird die Sprache in "Der Besuch der alten Dame" auch oft als "doppelbödig" bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist auf der Begrüßungsfeier zu Claires Ehren zu finden. Einerseits gibt es dort Alfred Ill, der an Claire appelliert, die Gerechtigkeit zu lieben. Andererseits sagt er auch, Claires Aussagen wären "zum Totlachen". Erst später wird klar, welche Bedeutung diese Worte haben.

ILL lachend: Einen goldenen Humor besitzt die Klara! Zum Totlachen, diese Bonmots!

Alle Zitate stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" (1980, Zürich, Diogenes Verlag).

Der Gebrauch des Wortes "tot" kommt in diesem Stück oft vor. Daher kann man hier von einer Verfremdung der Sprache sprechen. Die Güllener verschleiern mehr und mehr ihre wahren Absichten, verraten sich dadurch aber auch. Den Zuschauer*innen wird klar, dass Gesagtes und Gemeintes nicht übereinstimmen.

In den Dialogen wird auch mit den Mitteln der Verfremdung gearbeitet. Neben den Dialogen, in denen Figuren miteinander sprechen, gibt es auch jene, in denen sie nebeneinander herreden oder aneinander vorbeireden. Beim direkten Dialog, in dem sich zwei Figuren gegenüber stehen, wird klar, worum es geht, auch wenn sich die Figuren nicht einig sind.

Auffällig ist zudem die oft eingesetzte Wiederholung von Worten, Wortgruppen oder Sätzen.

DIE BEIDEN: Wir sind Koby und Loby, wir sind Koby und Loby.

ILL: Ich kenne sie nicht.

DIE BEIDEN: Wir haben uns verändert, wir haben uns verändert.

Durch die Wiederholung wird die Aufmerksamkeit auf diese Inhalte gelenkt. Gleichzeitig sind sie aber auch ein Mittel der Übertreibung, dem sich Dürrenmatt in seinem Stück immer wieder bedient. Komisches und Groteskes wird auf diese Weise noch verstärkt.

Bei einer Groteske wird die Wirklichkeit verzerrt und widersprüchlich dargestellt. Sie wirkt unheimlich und merkwürdig und verbindet Grauenvolles mit Komischem. Typisch für die Groteske sind zudem Übertreibungen.

"Der Besuch der alten Dame" – Die Tragikomödie

Friedrich Dürrenmatt hat mit seinem Werk einen neuen Typus des Dramas erschaffen. Der Untertitel des Stücks "DerBesuch der alten Dame" ist "Tragische Komödie". Diese Wortverbindung ist paradox und weckt Interesse. Es wird die Darstellung ernster Probleme in komischer Haltung erwartet. Den Zuschauer*innen wird Gelächter und Schrecken geboten, da dieses Stück sowohl Elemente der Tragödie als auch der Komödie enthält. Das Tragische spielt sich dabei im Inneren der Figuren ab, das Komische in den Handlungen.

Deutlich wird diese Mischung gleich zu Beginn der Geschichte, als Claire in Güllen eintrifft. Die Begrüßung, die Reden, die Versammlung – Alles wirkt komisch und merkwürdig. Gleichzeitig sind es einige Formulierungen der alten Dame, die dem Publikum einen ersten Hinweis auf die Tragik geben.

DER BÜRGERMEISTER: Doktor Nüßlin, unser Arzt.

CLAIRE ZACHANASSIAN: Interessant; verfertigen Sie die Totenscheine?

DER ARZT: Totenscheine?

CLAIRE ZACHANASSIAN: Kommt jemand um.

DER ARZT: Jawohl.

CLAIRE ZACHANASSIAN: Stellen Sie in Zukunft Herzschlag fest.

Claire wird am Bahnhof von einem Komitee in Empfang genommen. Unter ihnen ist der Bürgermeister, der eine Rede hält und ihr die anderen Menschen, die auf sie warten, vorstellt. Doch statt einer einfachen Begrüßung erkundigt sich Claire beim Arzt als Erstes, ob er Totenscheine ausfüllt. Auch die Aussage, dass er den Herzschlag feststellen werde, gibt Hinweis auf das, was folgt.

Das Komische und das Tragische stehen im gesamten Stück in einem ständigen Mischverhältnis zueinander. So ist es komisch, dass die Güllener einerseits den Mord an Ill ablehnen, gleichzeitig aber Dinge kaufen, die sie nicht bezahlen können und sie in die Situation zwingt, Claires Bedingung doch erfüllen zu müssen.

Claire Zachanassian ist die groteske Hauptfigur mit roten Haaren, Prothesen und einem merkwürdigen, komischen Gefolge. Sie fällt in die Stadt Güllen wie eine Rachegöttin ein. Ihre Darstellung ähnelt der einer griechischen Schicksalsgöttin. Sie ist unantastbar, unbeirrbar und allmächtig. Mit ihrem Reichtum besticht sie bereits in der ersten Szene den Zugführer, der sich bei ihr beschwert, da sie den Schnellzug per Notbremse gestoppt hat.

Claire wirkt durch diese Darstellung auf die Zuschauer*innen lächerlich und unglaubwürdig, aber auch grauenvoll. Sie hat keinerlei Skrupel, ihre Ziele durchzusetzen, gleichzeitig ist sie aber auch sentimental und sucht die Orte ihrer ersten Liebe auf.

"Der Besuch der alten Dame" – Interpretationsansätze

Friedrich Dürrenmatt lässt vieles unbestimmt. So fehlen vielen Figuren Namen. Sie sind stattdessen nach ihrer Beziehung zu Ill oder nach Berufen benannt. Dadurch werden sie nicht als individuelle Personen wahrgenommen, sondern nach ihrer Funktion in der Gesellschaft definiert. In "Der Besuch der alten Dame" gibt es viele Leerstellen, welche die Zuschauer*innen selbst interpretieren müssen. Dadurch baut sich Spannung auf.

Bei der Analyse und Interpretation der Tragikomödie sind verschiedene Themen zu berücksichtigen, die auch im Kontext ihrer Zeit zu betrachten sind. Die wichtigsten Themen in dem Stück werden im Folgenden betrachtet. Grundsätzlich sind, wie in vielen Werken Dürrenmatts, zwei Themen zentral: Moral und Kapital sowie Gerechtigkeit.

Moral und Kapital

Ist Moral käuflich? Diese zentrale Frage stellt sich gleich zu Beginn des Stücks, als Claire Zachanassian in Güllen eintrifft. Sie macht den Einwohner*innen der Stadt das Angebot:

CLAIRE ZACHANASSIAN: (...) will ich gleich erklären, daß ich bereit bin, Güllen eine Milliarde zu schenken. Fünfhundert Millionen der Stadt und fünfhundert Millionen verteilt auf alle Familien.

Dies ist eine unglaubliche Summe, welche Claire spenden will. Die Bewohner*innen Güllens und auch die Zuschauer*innen werden sich fragen, warum diese Frau so viel Geld geben möchte. Die Antwort folgt:

CLAIRE ZACHANASSIAN: Ich will die Bedingung nennen. Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit.

Die Güllener wissen damit zunächst nichts anzufangen, denn Claire sagt nicht direkt, was sie unter dieser Gerechtigkeit versteht. Stattdessen bittet sie jemanden aus ihrem Gefolge, den Menschen zu erklären, worum es geht. Der Mann ist niemand anderes als der Oberrichter, der vor 45 Jahren das Urteil sprach, das Claires Leben zerstörte. Seit mehr als 25 Jahren steht er nun in Claires Diensten.

Durch ihn wird die Geschichte von Claire offenbart. Nach und nach wird die Vergangenheit offengelegt. Dann folgt das erregende Moment, welches gleichzeitig das Ziel der Geschichte offenbart:

DER BUTLER: Und nun wollen Sie Gerechtigkeit, Claire Zachanassian?

CLAIRE ZACHANASSIAN: Ich kann sie mir leisten. Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.

Die Einwohner*innen Güllens sind entrüstet über dieses unmoralische Angebot. Sie wollen lieber arm sein, als sich mit Blut zu beflecken. Im Verlauf der Geschichte zeigt sich jedoch, dass die Menschen nicht auf Claires Geld verzichten wollen. Sie kaufen teure Sachen auf Kredit und sind sich anfangs nicht im Klaren darüber, was die Konsequenz ihres Verhaltens bedeutet: Sie müssen die Bedingung der Milliardärin erfüllen, wenn sie nicht verarmen wollen.

ILL: Neue Schuhe. Wie konntet ihr neue Schuhe kaufen?

DIE FRAUEN: Wir ließen's aufschreiben, Herr Ill, wir ließen's aufschreiben.

ILL: Ihr ließet's aufschreiben. Auch bei mir ließet ihr's aufschreiben. Besseren Tabak, bessere Milch, Kognak. Warum habt ihr denn auf einmal Kredit in den Geschäften?

DER ZWEITE: Bei dir haben wir ja auch Kredit.

ILL: Womit wollt ihr zahlen?

Ill begreift, dass das Verhalten der Einwohner*innen Claires Anliegen in die Hände spielt. Sie wird ihr Ziel erreichen, denn die Menschen geben Geld aus, welches sie nicht haben und müssen an welches kommen, um ihre Schulden zahlen zu können. Er ist sich sicher, dass die Moral nur noch eine Worthülse ist und seine Stunden gezählt sind.

ILL: Keiner will mich töten, jeder hofft, daß es einer tun werde, und so wird es einmal einer tun.

DER BÜRGERMEISTER: Sie sehen Gespenster.

ILL: Ich sehe einen Plan an der Wand. Das neue Stadthaus?

Er tippt auf den Plan.

DER BÜRGERMEISTER: Mein Gott, planen wird man wohl noch dürfen.

ILL: Ihr spekuliert schon mit meinem Tod!

Der Druck auf die Einwohner wächst. Sie verurteilen den Jungenstreich nun als "übles Verbrechen". Die verbale Aggressivität nimmt zu. Ill wird nun anders beurteilt und verurteilt. Dabei merken sie nicht, dass ihnen diese Verurteilung als Vorwand dient, um die Tat, die sie aus Geldgier begehen wollen, zu rechtfertigen. Ill selbst gibt auf. Er weiß, dass er sterben wird und verabschiedet sich von seiner Familie und von Claire.

Schließlich wird er bei einer Versammlung getötet. Es ist nicht klar, wer ihn letztlich umgebracht hat. Ill muss auf Aufforderung des Bürgermeisters eine Gasse, welche die Menschen der Stadt gebildet haben, betreten. Es wird dunkel und das Knäuel aus Menschen schließ sich um ihn.

Ill ist nicht durch die Hand eines Einzelnen gestorben, sondern durch das Kollektiv. Die Menschen der Stadt haben sich versammelt und die Bedingungen geschaffen, die scheinbare Moral aufrechterhalten. Ill wird für das, was er Claire vor so vielen Jahren antat, verurteilt, als "Schwein" bezeichnet und kommt dann in der Gasse aus Einwohner*innen der Stadt zu Tode. Im Kollektiv etwas Unmoralisches zu tun, erleichtert die Tat, da der Einzelne sagen kann, dass er es nicht war, sondern jemand anderes. Genau so wurde es von III vorhergesagt: Keiner wollte ihn töten, aber alle haben gehofft, ein anderer würde es tun.

Claire hält ihr Versprechen und überreicht dem Bürgermeister einen Check. Damit hat die Gier nach Reichtum über die Moral gesiegt.

Dürrenmatt übt durch dieses Gegenüberstellen von Moral und Reichtum Kritik an der Einstellung vieler Menschen seiner Zeit, für die Geld das Wichtigste war. Er zeigt, wie Geld die Moral der Menschen verändert und dass diese dazu neigen, unrechtes Verhalten zu verschleiern oder gar legitimieren. Die Einwohner der Stadt Güllen waren nicht gezwungen, ein Verbrechen zu begehen. Jede*r Einzelne hat sich dafür entschieden. Damit zeigt er, dass es nicht auf das Wertesystem, sondern auch das moralische, menschliche Handeln des/der Einzelnen ankommt.

Die Gerechtigkeit

Das Thema Gerechtigkeit ist in der Tragikomödie eng mit dem Thema Moral und Kapital verknüpft. Die zentrale Frage hier lautet: Kann Gerechtigkeit gekauft werden?

Claire Zachanassian sagt, sie wolle die Gerechtigkeit kaufen. Was sie dabei antreibt, ist jedoch Rache. Das, was ihr widerfahren ist, liegt 45 Jahre in der Vergangenheit. Claire selbst ist inzwischen Milliardärin, hat mehrfach geheiratet und bekommt alles, was sie will. Mit dem Geld hat sie auch Macht, welche sie in dem Städtchen Güllen auslebt.

DER BÜRGERMEISTER: Die Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen!

CLAIRE ZACHANASSIAN: Man kann alles kaufen.

Für Claire bedeutet Gerechtigkeit Rache. Sie will die Ordnung, die vor 45 Jahren gestört wurde, wiederherstellen.

Das Thema Gerechtigkeit ist aber auch mit Schuld verknüpft. Für die Güllener ist es ein abstrakter und vor allem moralischer Begriff, weshalb sie Claires Angebot auch zunächst entrüstet ablehnen. Indem Claire ihnen jedoch enthüllt, was in der Vergangenheit tatsächlich geschah, und dass Alfred Ill kein Unschuldiger ist, gibt sie den Einwohner*innen ein Mittel in die Hand, ihre Schuld zu verschleiern.

Die Einwohner*innen distanzieren sich zunehmend von Alfred und verurteilen sein Verhalten in der Vergangenheit. Damit ist der Mord an Ill für sie gerecht.

Dürrenmatts Mittel der Übertreibung und der Groteske werden auch daran deutlich, dass sowohl Claires Rachedurst als auch die Geldsumme, welche sie den Güllenern für den Mord an ihrem ehemaligen Geliebten bietet, unverhältnismäßig sind.

"Der Besuch der alten Dame" – Friedrich Dürrenmatt

Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 in einem kleinen Dorf im Kanton Bern geboren. Als Sohn eines Pfarrers hatte er oft mit Anfeindungen zu tun, weshalb er als Kind und Jugendlicher Einzelgänger war.

Dürrenmatt studierte in Bern und Zürich Germanistik, Philosophie und Naturwissenschaften.

Von 1945 bis 1946 schrieb er an seinem ersten Bühnenstück ("Es steht geschrieben"), das 1947 uraufgeführt wurde. 1946 heiratete er die Schauspielerin Lotti Geißler. Zu dieser Zeit war die finanzielle Situation Dürrenmatts unsicher, weshalb er auch Theaterkritiken sowie Hörspiele im Auftrag deutscher Rundfunkanstalten verfasste. 1950 schrieb er für die Zeitung "Schweizerischer Beobachter" seinen ersten Kriminalroman ("Der Richter und sein Henker").

"Der Besuch der alten Dame" war Dürrenmatts Durchbruch zum international anerkannten Bühnenautor. Neben Dramen schrieb Dürrenmatt aber auch für das Kabarett, außerdem Filmdrehbücher, Hörspiele, Romane und Erzählungen.

In seinen Werken gibt es Themen, die immer wieder aufgegriffen werden. Zentral sind dabei Recht und Gerechtigkeit sowie die Unabänderlichkeit der Geschehnisse im Leben von Menschen und die Fähigkeit Einzelner, dennoch human zu handeln. Er kritisierte die Schwächen der Gesellschaft.

Ab 1952 arbeitete Friedrich Dürrenmatt vermehrt theatertheoretisch. Er machte sich Gedanken über die konventionellen Formen des Theaters und wie Dramatiker seiner Zeit arbeiten könnten. Er war Kritiker und Redner und wurde in viele Länder eingeladen, um dort zu sprechen.

Friedrich Dürrenmatt erhielt viele Auszeichnungen (z. B.Österreichischer Staatspreis für Literatur, Georg-Büchner-Preis) sowie Ehrendoktorgrade verschiedener Universitäten.

"Der Besuch der alten Dame" – Epoche, Hintergrund und Entstehung

Der Besuch der alten Dame wurde 1956, während der Zeit des Wirtschaftswunders, geschrieben und ist demnach ein Werk der Postmoderne. Nach dem Ende des Krieges war der wirtschaftliche Aufschwung so groß, dass alle Menschen Arbeit hatten. Es wurde viel gebaut, Unternehmer investierten in Deutschland und auch die Automobilbranche war ein entscheidender Faktor für den Aufschwung.

Der neue Wohlstand brachte immer mehr Menschen dazu, Geld als das wichtigste Gut im Leben zu betrachten. Dürrenmatt beobachtete die Konsumgier kritisch und schrieb infolgedessen die Tragikomödie, die er zunächst "Komödie der Hochkonjunktur" nannte.

Postmoderne

Der Begriff "Postmoderne" setzt sich aus dem lateinischen Wort post, was "hinter" bedeutet sowie dem Wort "modern" zusammen. Damit ist die Epoche nach der Moderne gemeint. Entstanden ist der Begriff Ende der 1950er-Jahre. Bezeichnend für diese Epoche sind die Sprachexperimente und eine fragmentarische Erzählweise. Die Autor*innen der Epoche spielen z. B. mit vielen Stilmitteln und ließen Leerstellen, die von den Leser*innen selbst gefüllt werden müssen.

Neben Friedrich Dürrenmatt zählen u. a. Umberto Eco und Patrick Süskind zu den Autoren der Postmoderne.

2011 wird als das Ende der Postmoderne gesehen. Es folgt die Epoche des Neuen Realismus.

Wenn Du mehr über die Epoche der Postmoderne erfahren möchtest, dann lies Dir gerne unseren Artikel "Postmoderne Literatur" durch!

"Der Besuch der alten Dame" –Bedeutung des Werks

Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" wurde auf zahlreichen Bühnen in vielen Ländern, u. a. Polen, Schweden, Japan, England, USA, Kanada, Frankreich, Israel und Italien, aufgeführt. Es galt als großer Publikumserfolg. Außerdem wurde es mehrfach verfilmt und für die Oper adaptiert. In den letzten 25 Jahren wurde das Stück allerdings nur von einigen kleinen Bühnen aufgeführt.

Neben Schuld und Rache als Kern des Stücks rückt nach und nach auch der gesellschaftskritische Aspekt ins Zentrum. Dürrenmatt hat ein allgegenwärtiges Problem – die Käuflichkeit von Moral und Menschen – in Szene gesetzt, das zwar vorwiegend im zeitgeschichtlichen Kontext der 50er-Jahre analysiert wurde, aber bis heute nicht an Bedeutung verloren hat.

Friedrich Dürrenmatt zeigt in seinem Werk, dass man für Geld fast alles kaufen kann. Die Tragikomödie schildert, wie sich eine Gruppe von Menschen von einer einzelnen Person beeinflussen lässt. Er zeigt, wie die Macht von Geld so weit geht, dass diese Menschen einen Mord begehen und im gleichen Zug denken, sie hätten Gerechtigkeit geübt. Indem sie Unrecht tun, meinen sie, Gerechtigkeit walten zu lassen.

Der Besuch der alten Dame - Das Wichtigste

  • "Der Besuch der alten Dame" wurde im Jahr 1956 geschrieben und im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.
  • Die Tragikomödie spielt in der verarmten Kleinstadt Güllen. Als die Milliardärin Claire Zachanassian in die Stadt kommt, hoffen die Menschen auf eine bessere Zukunft.
  • Claire bietet eine Milliarde für den Tod von Ill, ihrem ehemaligen Geliebten.
  • "Der Besuch der alten Dame" ist eine Tragikomödie, in welcher Friedrich Dürrenmatt die Groteske und andere Mittel der Verfremdung einsetzt, um Komisches und Tragisches miteinander zu verbinden.
  • Die Themen "Moral und Kapitel" sowie "Gerechtigkeit" sind zentral in dieser Tragikomödie.
  • Dürrenmatt zeigt in seinem Werk, wie die Moral von Menschen durch eine einzige Person verändert und dass mit Geld alles gekauft werden kann.

Was thematisiert Der Besuch der alten Dame?

Durch Heirat inzwischen reich geworden, bietet die "alte Dame" den Güllenern eine Milliarde für Ills Tod. Dürrenmatts tragische Komödie thematisiert auf groteske Weise, dass Geld die Welt regiert. Sie entlarvt die Scheinheiligkeit und Scheingerechtigkeit und die verlogene bürgerliche Moral.

Warum wurde der Besuch der alten Dame geschrieben?

Dürrenmatt schrieb das Stück „Der Besuch der alten Dame“ vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs der Schweiz und den verschiedenen Folgen daraus. Er gestaltete hier die Folgen von Konsum und Konsumsucht so deutlich aus, dass es viele seiner Zeitgenossen ansprach.

Was ist der Höhepunkt bei der Besuch der alten Dame?

Der dritte Akt führt zum Höhepunkt. In einer Gemeindeversammlung wird der Tod des Ill zum Wohle der Gemeinschaft beschlossen und vollzogen. Das Drama Der Besuch der alten Dame wird von Dürrenmatt als tra- gische Komödie tituliert.

Wer hat Ill getötet?

Anfangs wollen die Bürger Güllens Ill nicht töten. Doch sie machen immer mehr Schulden. Er denkt, dass mit dem kommenden Wohlstand sein Tod schon beschlossene Sache wäre. Nachdem er sich schließlich mit seinem Tod abgefunden hat, lässt er sich von den Güllenern töten.