„Die Welt von Gestern“ (den unüblichen Großbuchstaben wählte Stefan Zweig absichtlich) wurde zwar nicht als Autobiografie konzipiert und enthält auch keine Enthüllungen, aber wir erfahren daraus doch einiges über die wichtigsten Stationen seines Lebens. Vor allem handelt es sich um die Geschichte seiner Generation.
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien als Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten Moritz Zweig und dessen Frau Ida geboren. Der Vater stammte aus Mähren, die Mutter, eine geborene Brettauer, wurde in Ancona geboren und gehörte zu einer über die ganze westliche Welt verstreuten Bankiersfamilie.
Besonders der mütterliche Teil der Familie achtete sorgfältig auf den Umgang: Da wurde bei jedem Schulfreund die Herkunft geprüft. Alle Bekannten wurden „klassifiziert“; das bildete „den Hauptgegenstand jedes familiären und gesellschaftlichen Gesprächs“. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschreibt Stefan Zweig als „das goldene Zeitalter der Sicherheit“.
Die Lebensart der Wiener grenzt er gegen die der Deutschen ab:
Die Wiener begeisterten sich für die Kunst und vor allem für das Theater. Selbst die einfachen Menschen, die sich keinen Theaterbesuch leisten konnten, hatten von den großen Schauspielern gehört und empfanden vor jeder künstlerischen Leistung eine „ungemeine Ehrfurcht“.
Stefan Zweig nennt einige Beispiele: Gustav Mahler (1860 – 1911), Arthur Schnitzler (1862 – 1931), Leo Fall (1873 – 1925), Max Reinhardt (1873 – 1943), Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929), Arnold Schönberg (1874 – 1951), Emmerich Kálmán (1882 – 1953). Die Schule empfand Stefan Zweig als Tortur, weil auf individuelle Interessen überhaupt nicht eingegangen wurde. Mit einem „ständigen Unzulänglichkeitsgefühl“ ging er morgens zum Unterricht.
Die Lehrer achteten darauf, ihre Autorität nicht durch ein persönliches Gespräch mit einem Schüler zu gefährden.
Statt für den Unterrichtsstoff begeisterte Stefan Zweig sich für Literatur und schwärmte zum Beispiel für Hugo von Hofmannsthal. Obwohl er morgens um 7 Uhr aufstehen musste, las er als Gymnasiast in der Regel bis 1 oder 2 Uhr nachts. Die Sexualität wurde am Ende des 19. Jahrhunderts zwar nicht mehr verteufelt wie im Mittelalter, aber als anarchisch empfunden und deshalb totgeschwiegen. Das Sexualleben durfte nur im Verborgenen stattfinden. Es handelte sich um eine „unehrliche und unpsychologische Moral des Verschweigens und Verdeckens“. Auf dem Land schlief zwar schon der siebzehnjährige Knecht mit einer Magd, und der junge Arbeiter lebte in wilder Ehe, bis er genügend verdiente, um eine Familie ernähren zu können, aber im Bürgertum gab es vor und neben der Ehe nur das heimliche Verhältnis mit einer verheirateten Frau oder das Bordell.
Als Gustav Mahler 1897 im Alter von 37 Jahren Direktor der Wiener Hofoper wurde, staunten die Leute, denn eigentlich hielt man erst die über Fünfzigjährigen für reif genug, um würdevolle und verantwortungsvolle Positionen zu bekleiden. Deshalb machten sich die Jüngeren durch Bärte und Brillen älter. Das änderte sich vor dem Ersten Weltkrieg: Plötzlich wollten alle jünger aussehen.
Von 1900 bis 1904 studierte Stefan Zweig in Wien und Berlin. Prägnant ist der Vergleich, den er zwischen seinen Zimmerwirtinnen anstellt:
Stefan Zweig reiste nicht nur nach Berlin, sondern auch nach Belgien, Holland, Frankreich, England, Italien, Spanien, Indien, Afrika und Nordamerika. Sozusagen als Stützpunkt mietete er eine kleine Wohnung in Wien. In Paris begegnet er Rainer Maria Rilke (1875 – 1926). Bei einer russischen Bildhauerin in Florenz entdeckte er ein Buch von Romain Rolland (1866 – 1944), begeisterte sich für dessen europäische Haltung und schrieb ihm. Es war der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft. Als im Sommer 1914 die Soldaten freudig und von der Menge bejubelt in den Krieg zogen, hielt er sich gerade in Baden bei Wien auf. Die Menschen ahnten nicht, was Krieg bedeutete. Für sie war der Krieg eine romantische Legende. Während des Krieges erwarb Stefan Zweig in Salzburg ein Jagdschlösschen aus dem 17. Jahrhundert, aber er hielt sich die meiste Zeit in der Schweiz auf. Dort stand er in engem Kontakt mit Romain Rolland und James Joyce (1882 – 1941). Im Frühjahr 1919, bei der Rückreise mit der Bahn nach Österreich, sah er während des Aufenthalts am Grenzübergang Buch am Fenster eines Salonwagens Kaiser Karl (1887 – 1922), der mit seiner Gemahlin Zita ins Exil fuhr. Stefan Zweig richtete sich 1919 in Salzburg ein und heiratete im Jahr darauf in Wien Friderike Maria von Winternitz (1882 – 1971). Im Juni 1922 besuchte er noch einmal seinen Freund Walther Rathenau (1867 – 1922) in Berlin. Weil der deutsche Außenminister nicht viel Zeit hatte, lud er Stefan Zweig ein, ihn bei einer halbstündigen Autofahrt in der Reichshauptstadt zu begleiten. In demselben Wagen wurde Walther Rathenau einige Tage später, am 24. Juni, von zwei rechtsradikalen Offizieren erschossen. Während der Inflation verwandelte Berlin sich „in das Babel der Welt“.
1928 folgte Stefan Zweig einer Einladung anlässlich des 100. Geburtstags von Leo Tolstoi (1828 – 1910) und hielt sich zwei Wochen lang in der Sowjetunion auf.
Außer Romain Rolland und anderen namhaften Intellektuellen zählte Stefan Zweig Émile Verhaeren (1855 – 1916), Sigmund Freud (1856 – 1939), Arthur Schnitzler (1862 – 1931) und Maxim Gorki (1868 – 1936) zu seinen persönlichen Freunden. Adolf Hitler wurde am 20. Dezember 1924 vorzeitig aus der Festungshaft entlassen.
Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 wurde der nach Stefan Zweigs Novelle „Brennendes Geheimnis“ gedrehte Spielfilm sofort aus dem Kinoprogramm genommen. Der Schriftsteller, der zu diesem Zeitpunkt der erfolgreichste Autor des renommierten Insel-Verlags war, befürchtete ein Verbot seiner Bücher in Deutschland. Sein Verleger konnte sich das nicht vorstellen. Doch am 10. Mai wurden Stefan Zweigs Bücher zusammen mit denen anderer missliebiger Autoren öffentlich verbrannt. (Ungeachtet der öffentlichen Ablehnung ließen sich seine Bücher noch bis 1934 verkaufen. ) Mit Richard Strauss zusammen hatte Stefan Zweig an der Oper „Die schweigsame Frau“ gearbeitet. Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 bestand der Komponist zur Überraschung des jüdischen Schriftstellers darauf, das Werk zu vollenden, und durch seine Beziehungen erreichte er, dass Hitler persönlich die Uraufführung am 24. Juni 1935 in Dresden erlaubte. (Stefan Zweig, dem bei der Abfassung des Manuskripts keine Aufzeichnungen oder Nachschlagewerke zur Verfügung standen, verlegte die Premiere irrtümlich ins Jahr davor.) Doch nach drei Aufführungen setzte man die Oper ab. Grund dafür war ein von der Gestapo abgefangener Brief, den Richard Strauss seinem Librettisten am 17. Juni 1935 schickte. Er „mime“ den Musikkammerpräsidenten, „um Gutes zu tun und größeres Unglück zu verhüten“, schrieb Richard Strauss — und musste daraufhin am 13. Juli seinen Rücktritt einreichen. (Mehr dazu in meinem Buch „Göring und Goebbels. Eine Doppelbiografie“.) Stefan Zweig zeigte Verständnis dafür, dass Richard Strauss sich den Nationalsozialisten näherte, denn der Musiker hatte mehrere Opern mit jüdischen Librettisten geschaffen, sein Sohn war mit einer Jüdin verheiratet, und er bangte deshalb auch um seinen Enkel.
Im Februar 1934 zog Stefan Zweig mit seiner Frau von Salzburg nach England, wo sie zuerst in London, dann in Bath wohnten. 1936 bereiste er Nord- und Südamerika. Im Spätherbst 1937 besuchte er zum letzten Mal seine Mutter in Wien, die nur noch kurze Zeit unter den ersten Maßnahmen der Nationalsozialisten nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 zu leiden hatte. Die 84-jährige Frau ging gern spazieren, musste sich jedoch alle paar Minuten ausruhen. Juden wurde jedoch das Sitzen auf Anlagenbänken verboten. Als die alte Dame das Bewusstsein verlor, rechnete der herbeigerufene Arzt mit ihrem baldigen Tod und sorgte deshalb dafür, dass eine vierzigjährige Pflegerin am Sterbebett wachte. Ein sechzig Jahre alter Vetter Stefan Zweigs wollte ebenfalls in dem Haus übernachten, aber das war unmöglich, denn eine „arische“ Frau unter fünfzig durfte sich nicht mit einem Juden unter einem Dach aufhalten. Wegen einer Affäre mit seiner wesentlich jüngeren Privatsekretärin Lotte Altmann (die er am 6. September 1939 heiratete) ging Stefan Zweigs erste Ehe in die Brüche. Die Scheidung erfolgte am 24. Dezember 1938. Nach dem Verlust seiner österreichischen Staatsangehörigkeit bat er in England um einen Pass für Staatenlose. Als die Deutschen am 1. September 1939 Polen überfielen und die britische Regierung deshalb dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, sank Stefan Zweig noch eine weitere Stufe nach unten: vom Staatenlosen zum „enemy alien“. Über Stefan Zweigs letzte Jahre: Kurzbiografie. nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe) |