Heißer Sand und ein verlorenes Land Text

Mina Heißer Sand Heißer Sand und ein verlorenes Land, und ein Leben in Gefahr. Heißer Sand und die Erinnerung daran, daß es einmal schöner war. Schwarzer Tino, deine Nina, war dem Rocko schon im Wort. Weil den Rocko sie nun fanden, schwarzer Tino, mußt du fort. Heißer Sand... Heißer Sand! Schwarzer Tino, deine Nina, tanzt im Hafen mit den Boys, nur die Wellen singen leise, was von Tino jeder weiß. Heißer Sand und ein verlorenes Land, und ein Leben in Gefahr. Heißer Sand und die Erinnerung daran, daß es einmal schöner war. [Mina: Heißer Sand. Polydor 1962.]

Neun Wochen lang belegte 1962 die Italienerin Mina (Anna Maria Mazzini) den Spitzenplatz der deutschen Hitparade mit einem Schlager, dessen narrativer Plot wie die Aufgabenstellung für ein Seminar „Kreatives Schreiben“ daherkommt: drei Namen, ein paar vage Andeutungen zu den Schauplätzen des Geschehens, ein elegischer Zug und ansonsten jede Menge Leerstellen – macht was draus!

Tino, Nina, Rocko – zwei Männer, eine Frau, offenbar eine klassische Dreieckskonstellation – das kann nicht gut gehen … Schon gar nicht im temperamentvollen italienischen Kontext, auf den Interpretin und Namen der Protagonisten verweisen. Soweit sind sich Leser anspruchsvoller wie trivialer Genres schon einmal einig. Schlagertexter Kurt Feltz (1910-1982), einer der erfolgreichsten Vertreter seiner Zunft, gibt uns noch ein paar weitere Appetitanreger, aus denen sich eine passable melodramatische Eifersuchtstragödie (re-)konstruieren lässt: Tino liebt Nina, die ist aber schon einem Rocko versprochen. Der Text formuliert hier unpersönlich, was die Vermutung nahe legt, dass es sich dabei um eine von den Familien arrangierte Beziehung gehandelt, Nina tatsächlich aber Tino den Vorzug gegeben hat. Auch das Possessivpronomen des Verses „Schwarzer Tino, deine Nina“ weist in diese Richtung.

Nun muss der „schwarze Tino“ (im historischen Kontext sicher als ,schwarzhaarig’, dunkler Typ zu verstehen, nicht als ,Afro-Italiener’!), fort, weil Rocko wieder da ist, aller- und schlechterdings nur als Fundstück. Wir reimen uns eine Handlung nach melodramatischem Schema, durchaus ein wenig angelehnt an Lucio Viscontis bei den Filmfestspielen in Venedig preisgekrönten Film Rocco e i suoi fratelli (1960) zusammen, und siehe da, alle Bruchstücke fügen sich schnell zu einem stimmigen Bild: Tino hat Rocko – vorsätzlich, im Affekt, eventuell auch in Notwehr? – aus dem Wege geräumt, aber anscheinend bei der Beseitigung der Leiche gepatzt. Das rächt sich nun; man ist ihm auf den Fersen, Polizei oder – genregemäßer, ergo schöner – gleich zwei rachdurstige Familienclans. Nun erschließt sich auch die Form des Textes: Er besteht aus einem auf die Gegenwart Tino bezogenen Rahmenteil (Refrain) und zwei die Vor- bzw. Parallgeschichte Ninas referierenden Strophen. Zwischen letztere ist in der Mittelachse noch eine Verszeile eingeschoben, die zum Rahmenteil zählt und als extrem verdichteter Refrain (quasi als Super-Leerstelle) gelesen werden kann.

Die zweite ,historische’ Strophe berichtet, wie die erste ausdrücklich an Tino adressiert, vom Leben in der alten Heimat. Auch seine geliebte Nina hat die Tragödie nicht ,unbeschädigt’ überstanden; sie ist – vermutlich aufgrund sozialer Ächtung – zum Hafenmädchen herabgesunken, einer im Schlager und Unterhaltungsfilm durchaus anschlussfähigen und assoziationsträchtigen Rolle („Ein Schiff wird kommen“). Dass sie mit „Boys“ tanzt, scheint mir im Kontext der anderen Narrative dieses Schlagers eher auf einen süditalienischen Flottenstützpunkt hinzuweisen als auf die Neigung deutscher Songs der Nachkriegsjahre zu Amerikanismen. Selbstverständlich macht der Text Nina für das Schicksalsdrama nicht verantwortlich, mehr noch als Tino oder der (vermutlich) tote Rocko ist sie Opfer des Geschehens. Elmar Kraushaars Schuldzuweisung in Schlager, die wir nie vergessen. Verständige Interpretationen (Hrsg. von Max & Moritz, Leipzig: Reclam, 1997, S. 136-138) kann ich hier gar nicht nachvollziehen: „Mit Nina hat das Böse einen Namen, sie hält die Fäden in der Hand, lässt die Männer über die Klinge springen und kennt nur ihr selbstsüchtiges Vergnügen dabei.“ Diese Sicht der Dinge (ähnlich, wenn auch abgeschwächt, im Wikipedia-Artikel) ist schlicht abwegig und wird vom Text in keiner Weise gedeckt.

In der zweiten Hälfte der zweiten ,historischen’ Strophe erfahren wir noch, dass Tinos Tat inzwischen zwar ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist, gleichwohl aber totgeschwiegen wird. In solchen Situationen übernimmt in der Poesie traditionell die Natur (hier sind es konkret „die Wellen“) die vakante Rolle des Erzählers bzw ,Sängers’. Dieser Kunstgriff ist nun wirklich nicht neu, hier aber trotzdem stimmig und erzähltechnisch fast schon notwendig; nur Naturphänomene wie Wind und Wellen sind unter den gegebenen Umständen in der Lage, alles zu wissen und die Distanz zwischen alter Heimat und neuem Aufenthaltsort Tinos in der gefährlichen Fremde zu überbrücken.

Der Refrain beschreibt nach meiner Lesart also die aktuelle Situation Tinos: „Heißer Sand und ein verlorenes Land, / und ein Leben in Gefahr.“ Das klingt nach ausgesprochen abenteuerlicher Existenz. Dass diese Lebensweise einer zivilen Lebensperspektive auf alle Fälle unterlegen ist, machen die nächsten Verse klar – früher, d.h. zu Hause, hatte es Tino eindeutig „schöner“. Lässt sich diese aktuelle Situation noch ein wenig konkretisieren? Ich denke schon: „Heißer Sand“ evoziert im Kontext des Schlagers das Bild nordafrikanischer Wüsten, „ein Leben in Gefahr“ den Dienst in der französischen Fremdenlegion. Die Légion étrangère bot sich jungen Männern in der Lage Tinos – allerdings eher innerhalb zeitgenössischer deutschsprachiger Boulevardpresseartikel und Abenteuergeschichten als in der Realität! – als Zufluchtsort beinahe zwingend an. (Nach 1945 bis zum Ende des Algerienkrieges waren zeitweise über 50% der Legionäre deutscher Nationalität oder Sprache, entsprechend intensiv und häufig beschäftigte man sich hierzulande in öffentlichen Diskursen mit dieser Truppe und einschlägigen Einzelschicksalen; vgl. Eckard Michels: Deutsche in der Fremdenlegion1870-1965. Mythen und Realitäten. Paderborn u.a.: Schöningh, 5. Aufl. 2006. Auch im Schlager waren Fremdenlegionäre Thema, etwa in Freddy Quinns Der Legionär.)

Von 1954 (legendäre Niederlage in Indochina) bis 1962 wurde die Legion vor allem als Speerspitze der Kolonialmacht im Algerienkrieg gegen die algerische Befreiungsfront (FNL) eingesetzt. Dieser Konflikt entwickelte sich über die Jahre hinweg zu einem der schmutzigsten und opferreichsten Unabhängigkeitskriege überhaupt, der von beiden Seiten auch unter Einsatz terroristischer Mittel geführt wurde. Frankreich stand 1961 dank seiner überlegenen Kriegsmaschinerie zwar vor dem militärischen Sieg, gleichzeitig aber vor einer moralischen und politischen Niederlage. In dieser Lage stimmte das kriegsmüde französische Volk mit 75% (allerdings nur mit 40% der algerischen Wähler) für die Politik des Präsidenten de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entlassen wollte. In den Folgemonaten bekämpften sich OAS (geheime Organisation der Algerien-Siedler) und FNL mit brutalen Terroraktionen inklusive Folter, ein Putsch algerischer Militärs scheiterte, in Paris kam es zu einem Massaker von Polizei und Militär an Demonstranten. Schließlich erkannte Charles de Gaulle im März 1962 das Recht Algeriens auf Selbstbestimmung offiziell an, worauf eine Massenflucht der französischen Siedler ins Mutterland einsetzte. Am 1. Juli entschieden sich 99% der Algerier für die Unabhängigkeit, die postwendend von Frankreich bestätigt wurde. Das französische Militär bezifferte seine Toten mit rund 17.500, davon knapp 2.000 Legionäre, was einem weit überproportionalen Blutzoll entsprach. Die FNL gab die eigenen Verluste mit 300.000 an. Schätzungen der getöteten algerischen Bürger schwanken zwischen 350.000 und 1,5 Millionen. Von den rund 150.000 muslimischen Kollaborateuren, die von den Franzosen nach ihrem Abzug entwaffnet und schutzlos zurückgelassen wurden, dürften die meisten unter schrecklichen Umständen ermordet worden sein.

Die zeitgenössischen Bezüge der kleinen Phrase „Heißer Sand und ein verlorenes Land / und ein Leben in Gefahr“ in unserem Schlagers sind damit ein wenig konkreter geworden. Allerdings besitzen sowohl „Sand“ wie auch „verlorenes Land“ durchaus ambivalente Konnotationen. Betrachten wir das private Schicksal Tinos, so ,brennt’ diesem – metaphorisch gesehen – ,der Boden unter den Füßen’; andererseits bekämpfen sich auf dem klimatisch wie militärisch heißen Terrain Algeriens Legionäre und FNL-Kämpfer, wobei die zusätzliche ,Aufheizung’ der Sahara durch französische Atombombentests vom Texter vermutlich nicht einmal mitgedacht war. Tino hat seine italienische Heimat verloren, Frankreich spätestens mit dem 1961er Referendum seine wichtigste nordafrikanische Kolonie.

Orientalisierende Melodiebögen, Moll-Orchestrierung, Background-Chor und Akzent der Interpretin verdichten das hochdramatische Geschehen mit musikalischen Mitteln (Komponist: Werner Scharfenberger) und bestätigen damit zusammen mit dem Text – in diesem Punkt folge ich gerne Elmar Kraushaar (s.o., S. 137) – allerlei deutsche Klischees über italienische Mentalität: „Männer und Frauen voller Leidenschaft, tödliche Eifersucht, Familienehre, Blutrache.“ Neben die Verniedlichung der neuen Mitbürger („Gastarbeiter“) in Schlagern à la Zwei kleine Italiener (Conny Froboess, ebenfalls 1962) tritt hier deren Dämonisierung. Inwieweit Figuren wie Tino, Nina und Rocko nicht nur an zeitgenössische Filme des italienischen Neorealismus erinnern, sondern auch älteren Traditionslinien der Oper geschuldet sind, wäre in einer Spezialuntersuchung zu klären.

Eingangs habe ich „Heißer Sand“ scherzhaft als Vorlage für ein Kreativ-Seminar eingeführt, doch selbstverständlich haben Schlager dieser Art einen anderen „Sitz im Leben“, sie sprechen intuitive Gefühle, Sehnsüchte, Ängste, Sorgen und Wünsche ihrer HörerInnen an und funktionieren in der Regel nicht ,über den Kopf’. Um eine konsequente Rekonstruktion der angedeuteten ,Geschichte’, um ein Verständnis der ästhetischen Struktur geht es ihren Verfassern allenfalls am Rande. Wie sehr sich Teenies 1962 von Mina angesprochen fühlen konnten und wie intensiv sie auf eine unscharfe, aber nichtsdestoweniger existenzielle Weise über diesen Schlager etwas über die ungeheure anarchische Macht der Liebe erfahren konnten (die ja immer auch Thema ganz großer, ernster Literatur gewesen ist, siehe etwa Tristan und Isolde), expliziert eine Internetquelle:

[…] meine fortgeschrittene Lebenserfahrung läßt mich heute die Brisanz der geschilderten Konstellation klipp und klar erkennen. Hätte mich allerdings damals [als 12jährige] jemand gefragt, was dieser Text zu bedeuten habe, ich hätte es vermutlich beim allerbesten Willen nicht sagen können. Eines aber wußte ich mit Sicherheit: Ich fand diesen Text super. ,Heißer Sand und ein verlorenes Land und ein Leben in Gefahr…’ – das klang in meinen Ohren gefährlich, düster, diabolisch, geheimnisvoll und machtdurchtobt. So und nicht anders mußte es sein, all das, was ich schon immer einmal gerne erlebt hätte und von dem ich nicht sicher war, ob ich es mir irgendwann einmal [zu]trauen würde. Und kein anderer Schlagertext vermochte mir je eine ähnliche Ahnung davon zu vermitteln, welche Gefahren im Leben auf mich lauern, welche Schicksalsschläge meiner harren und wie ich ihnen erfolgreich würde trotzen können. Immer, wenn ich einmal nicht weiter wußte, dann legte ich diese Platte auf, glücklich darüber, daß es in Mina einen Menschen gab, der mich voll und ganz verstand. ,Nur die Wellen singen leise / was von Tino jeder weiß’ – genau. (http://www.schulla.com/covergalerie/DATEN/M/MINA/Mina.htm)

Hans-Peter Ecker (Bamberg)