Michail Bulgakow wurde 1891 in Kiew geboren, wo er auch aufwuchs und ein Medizinstudium abschloss. Als Militärarzt nahm er auf der Seite der Weißen am russischen Bürgerkrieg teil, war aber bald von den Kriegsverbrechen der Weißen Armee dermaßen abgestoßen, dass er sich schließlich mit dem Sieg der Bolschewiken abfand. Als die Liebe zur Literatur immer stärkeren Anspruch auf ihn
erhob, gab er den Arztberuf auf und zog 1921 nach Moskau, um dort bis zu seinem Tod im Jahre 1940 meist mehr schlecht als recht (in einem Brief an die sowjetische Regierung bezeichnete er sich selbst als "mystischen Schriftsteller" und hatte auch in anderen Dingen des Lebens einen so gar nicht proletarischen Geschmack) als Schriftsteller und Journalist zu leben. "Mir nach, Leser! Wer hat dir gesagt, es gäbe auf Erden keine wahre, treue ewige Liebe? Man schneide dem Lügner seine gemeine Zunge ab!" Pilatusroman bzw. Volandevangelium: Auch nach seiner Zeit als Weißgardist blieb Bulgakow dem Christentum geistig eng verbunden. Ob er nun nach genauem Studium der literarischen Christusquellen (nicht nur der neutestamentarischen) diesen seinen Christus als möglichst unvoreingenommener Filologe entwarf oder ihm wie dem fiktiven Verfasser, dem Meister aus der ersten Geschichte, tatsächlich die historische Begebenheit um Pontius Pilatus und Jesus von Nazareth aus dem kosmischen Bewusstsein dokumentarfilmgleich aufgeschienen ist (oder eine Kombination von beidem oder sonst eine Absicht ihn leitete, Bulgakow verwendet in diesem Zusammenhang verschiedenen Worte wie "erraten", "erfinden", "zeigen", "sehen") - sein Christusbild ist jedenfalls völlig un- , ja antidogmatisch, wenn auch im übrigen sehr sympathisch, ausgefallen. Von einer Vorbestimmtheit des Opfertods Christi etwa ist nichts zu merken, stattdessen wird die Möglichkeit betont, dass die Entscheidung bei Pilatus gänzlich anders, unkonventioneller und mutiger, hätte ausfallen können, zumal der römische Statthalter über brisante transzendentale Themen wie Vorbestimmtheit und Freiheit nicht weniger gern zu filosofieren scheint als Jesus. Jeschua Ha-Nozri, wie der Nazarener in dem Roman genannt wird, ermangelt es auch durchaus nicht der profetischen Gabe, doch merkt er die Gefahr für sein Leben (welches zu erhalten ihn sehr gefreut hätte) erst, nachdem Pilatus innerlich das Todesurteil gefällt hat. Dem Jesus der kanonischen Evangelisten näher erscheint er in dem bedingungslosen Glauben an das Gute, Göttliche in jedem Menschen, welches sich allerdings im Regelfall damals wie heute durch zahlreiche Verletzungen verschleiert zeigt und erst nach mannigfachen kathartischen Prozessen wieder tragendes Prinzip werden kann. Pilatus ist zwar von Ha-Nozris praktischen medizinischen Fähigkeiten auf das angenehmste beeindruckt, doch geraten ihre geschichtlichen Konsequenzen in einen tödlichen Konflikt mit seinem höchsten Wert, der Loyalität dem Kaiser in Rom gegenüber, denn letzterer kann in seinem politischen Absolutheitsanspruch Jeschuas Vision vom Reich Gottes, seine leider publik gewordenen Äußerungen, "dass von jeder Staatsmacht den Menschen Gewalt geschehe und dass eine Zeit kommen werde, in der kein Kaiser noch sonst jemand die Macht hat. Der Mensch wird eingehen in das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo es keiner Macht mehr bedarf." nicht dulden. Wohl vermag auch Pilatus, nach Bulgakows Meinung immerhin Sohn eines Sterndeuters, weiter als bis zu seinem persönlichen Ableben vorauszublicken, allein seine Furcht übermannt ihn. Kompensationshandlung für seine in dem Todesurteil resultierende Feigheit, ehe er in den folgenden Jahrtausenden den Meister und viele andere Erdenbürger als Geist heimsuchen wird, ist es, dem einzigen in dem Roman erwähnten Jeschua-Schüler, dem ehemaligen Zöllner Matthäus dessen kurzzeitig beschlagnahmte Mitschriften von Jeschuas Reden zurück- und einiges an frischem Pergament hinzuzugeben. Diese Wendung wirkt umso überzeugender, als auch in den kanonischen Evangelien Pilatus eine seltsame Rolle spielt - obwohl niemand anderer als er für den grausamen Kreuzestod Jesu letztverantwortlich ist, wird er auffallend freundlich, dreiviertelunschuldig sozusagen dargestellt (und wurden immerhin auffallend viele seiner mit Jesu Leben und Lehre nur am Rande zusammenhängenden Bonmots in die Evangelien mithineingenommen). Sei abschließend noch gesagt, dass die sonstigen Elemente des Pilatusromans (bzw. des Volandevangeliums, denn Voland war Zeuge der Jerusalemer Begebenheiten) sowohl historisch als auch psychologisch stimmig erscheinen und dass der Jesus-Pilatus-Konflikt auf Bulgakows Beziehung zu seinem mächtigsten Fan, Jossif Stalin, ebenso verweist wie auf Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor, er sich überhaupt als allgemeines Thema mit variierenden Konstellationen durch den Roman, ja, durchs Leben selber zieht und dabei, wie mir scheint, auch vor dem sogenannten aktuellen Zeitgeschehen nicht Halt macht. Darf man sagen, dass Rom künftig häufiger in der Rolle Christi als in der von Pilatus zu bewundern sein möge? Die dritte Geschichte handelt vom Wüten, Wirken und Walten des Bösen im Moskau des Mai 1929 (nachdem Bulgakow in früheren Fassungen hierfür unter anderen die Jahre 1943 und 1945 in Erwägung gezogen hatte). Voland nennt sich der Satan, und wird von vier Dienern begleitet: Korowjew, einem langen Mann in
kariertem Jäckchen, mit riesigem Zwicker; Asasello, einem kleinen Mann mit Ganovenblick, grauem Star im Auge, einem Vorderzahn und meisterhaften Schießkünsten; Behemoth, einem sprechenden schwarzen Kater; und schließlich Gella, einer Hexe, rot und schön. Zunächst beziehen die Gesellen ihr Moskauer Hauptquartier, eine unheimliche Wohnung, in der früher schon Personen einfach verschwunden sind und die, wie sich
herausstellen wird, recht dehnbar ist in ihren Dimensionen. Geplant sind Vorstellungen in einem Varietétheater, wozu Plakate gedruckt werden, welche zu einer "Vorstellung in Schwarzer Magie und ihre Entlarvung" einladen. Die Absicht Volands ist es, die (neuen, sowjetischen) Moskauer zu testen und herauszufinden, ob sie sich innerlich verändert haben. Als erstes und am unmittelbarsten werden dabei insbesondere die Personen betroffen, welche mit dem Theater (oder gar mit der keineswegs
leerstehenden Wohnung) direkt in Kontakt stehen oder kommen; ein Kritiker, ein Lyriker, ein Theaterdirektor, der Finanzdirektor des Theaters und ein paar andere Auserwählte kommen so zu einer Probe auf Leben und Tod. Sind Sie ein Mensch, dessen "Leben bisher so verlaufen war, dass er absonderliche Erscheinungen nicht gewohnt war"? Dann werden Sie wahrscheinlich keine gute Figur machen, wenn man Sie, wie Voland und seine Bande magischer Trickbetrüger es bei diesen Zusammentreffen mit
Vorliebe tun, mit Ihrer eigenen Schattenseite konfrontiert. Aber wer weiß? Die springenden Punkte, wie man bei derartigen Begegnungen abschneidet, sind wohl, welche eigenen psychischen Kräfte man dabei einbringt und wie starr und klein oder vielmehr ausgewogen, stark und erweiterbar die innere Welt des jeweiligen Bewusstseins ist. Bulgakow hat im Laufe seines Lebens Menschen mit den unterschiedlichsten Masken, Charakteren und Überzeugungen in allen möglichen Situationen beobachtet, studiert und
sich darüber systematisch Notizen gemacht. Äußerst gekonnt vermag er diese Beobachtungen nun in seine Rahmenhandlung einzuflechten, wodurch diese bei aller Fantastik gleichzeitig eine sehr reale und äußerst intensive Atmosfäre atmet. Noch stärker kodiert sind die gesellschaftskritischen und politischen Passagen (Kenner der Zeit werden sicher zahlreiche Anspielungen und Verweise mehr entdecken können), doch auch für den Nichtrussen offenbart sich eine große Fülle an Parodie, Satire, Fieberträumen
und Visionen, die weit in unser multimediales Zeitalter hineinreichen. Höhepunkt dieser Geschichte ist die grandiose Vorstellung in Schwarzer Magie, die leider, zumal die Entlarvung für die braven Moskauer nicht sonderlich günstig ausfällt, von keiner zweiten gefolgt wird. (stro) Michail Bulgakow: "Der Meister und Margarita" Weitere B�cher des Autors (Auswahl): "Aufzeichnungen eines Toten" "Das Leben des Herrn de Moli�re" "Teufeliaden" "Die wei�e Garde" zur Rezension ... |