Was passiert wenn ein atomkraftwerk explodiert

Europas größtes Kernkraftwerk in der Nähe der Großstadt Saporischija ist mittlerweile unter russischer Kontrolle. Wie gefährlich für Europa ist der Beschuss von Atomkraftwerken?

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Am 4. März 2022 gingen Bilder von einem brennenden Kernkraftwerk in der Ukraine um die Welt. Es gab die Befürchtung, ein zweites Tschernobyl könne passieren und große Mengen an Radioaktivität entweichen. Professor Clemens Walther arbeitet am Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Uni Hannover und gibt einen Einblick in die derzeitige Gefahrenlage.

Wie ist die gegenwärtige Situation in der Ukraine, speziell am Kernkraftwerk in Saporischija?

Zurzeit scheint die Lage stabil zu sein. Es werden keine erhöhten Strahlungswerte in der Umgebung gemessen und laut Informationen scheint keine Radioaktivität auszutreten. Allerdings beunruhigt es, dass sich der Vorfall wiederholen könnte - also dass an dieser oder an anderen nuklearen Anlagen Bombentreffer und Raketentreffer einschlagen könnten.

Wie stark müsste das Atomkraftwerk beschädigt werden, damit es zu einer großen Gefahr werden könnte?

Bei den in der Ukraine befindlichen Reaktoren handelt es sich um russische Druckwasserreaktoren. Diese Druckwasserreaktoren sind durch eine massive Beton-Einhausung geschützt und der Reaktorkerns selbst ist in einem sehr starken Stahlgefäß. Man nennt das Reaktordruckbehälter.

Nichtsdestotrotz sind diese Anlagen nicht gegen einen massiven militärischen Angriff geschützt. Also ein gezielter Beschuss mit einer oder sogar mehreren Raketen könnte die strukturelle Integrität dieser Barrieren aufheben. Das heißt, es könnte zur Zerstörung der Außenhülle kommen. Verschiedene Szenarien der Freisetzung wären dann denkbar.

Ein Schutzbau bedeckt den explodierten Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl. picture-alliance / Reportdienste /dpa/AP

Allerdings muss nicht sofort das gesamte radioaktive Inventar freigesetzt werden. Wir unterscheiden sehr stark, in welchem Betriebszustand der Reaktor ist.

Ist der Reaktor in vollem Leistungsbetrieb, dann ist die Gefahr einer Freisetzung am höchsten. Es könnten dann im Bereich von ein, mehrere Prozent der Radioaktivität in diesem Reaktor freigesetzt werden. Das wären ungefähr zehn hoch 18 Becquerel, also eine eins mit 18 Nullen. Dies gleicht der Größenordnung, wie damals in Tschernobyl.

Es ist aber durchaus so, dass dieser Schaden nicht unbedingt auftreten muss. Man könnte auch kleinere Beschädigungsszenarien haben und dann ist alles zu kleineren Werten bis hin zu gar keiner Freisetzung denkbar. Das heißt, die Antwort auf diese Frage müsste man sehr detailliert geben.

Inwieweit bringt das Runterfahren eines beschädigten Atomkraftwerks noch etwas?

In dem Moment, wo es beschädigt ist und wir davon ausgehen, dass dieses noch funktionsfähig ist, kann ich natürlich sofort einen sogenannten "Scram" durchführen. Das ist für eine Notabschaltung des Reaktors. Das heißt: Der Reaktor würde aus dem Leistungsbetrieb sofort abschalten.

Unglücklicherweise ist das bei Kernkraftwerken nicht so, dass damit auch die Leistung gleich null ist, sondern wenn sie einen Kernreaktor haben, der tausend Megawatt Strom produziert, dann hat er ungefähr 3000 Megawatt thermische Leistung. Wenn sie ihn abschalten, hat er direkt danach noch sechs Prozent. Das sind immerhin 180 Megawatt. Und diese Leistung ist noch da und klingt erst über Tage und Wochen langsam ab.

Auf diesem Satellitenfoto von Planet Labs PBC ist das Kernkraftwerk Saporischschja in Enerhodar, Ukraine, am 2. September 2019 zu sehen. picture-alliance / Reportdienste /dpa/Planet Labs PBC via AP

Das heißt, sie müssen die Anlage so integer halten, dass sie noch weiter gekühlt wird. Wenn das nicht möglich ist, weil zum Beispiel die Pumpen beschädigt sind oder kein Kühlwasser zur Verfügung steht, dann würde der Kern auch nach einigen Stunden oder Tagen noch heiß genug werden um schmelzen. Mit weiteren Freisetzungen ist anschließend zu rechnen. So ist es auch in Fukushima passiert.

Was ist in Tschernobyl mit den Reaktoren genau passiert?

Die Reaktoren sind nicht sofort explodiert, wie wir das vielleicht von Tschernobyl noch im Kopf haben, sondern die sind geschmolzen, weil keine Kühlung mehr möglich war. Danach kam es zu einer Freisetzung. Es gibt aber durchaus auch Fälle wie im Kernkraftwerk Three Miles Island bei Harrisburg, wo eine Kernschmelze eingetreten ist, aber keine nennenswerte Freisetzung erfolgte. Das ist diese differenzierte Betrachtung, die ich vorhin ansprach, eine Kernschmelze ist, nicht gleich das, was man als Supergau bezeichnet.

Bei Tschernobyl war es ein graphitmoderierter Reaktor. Dieser Graphitkohlenstoff brennt natürlich sehr gut. Und man hatte dort das Problem, dass über zehn Tage dieser Brand die Radioaktivität in großer atmosphärische Höhen getragen hat. Und das hat immens zu der Freisetzung und zum Transport bis nach Mitteleuropa beigetragen.

Ein verlassener Kühlturm in Tschernobyl, Ukraine. Die ukrainische Regierung hat das Gebiet um das Kernkraftwerk Tschernobyl kürzlich zum Biosphärenreservat erklärt, weil die Tierwelt in dem verlassenen Gebiet ohne menschliche Anwesenheit gedeiht. picture-alliance / Reportdienste / Photoshot

Das ist bei einem solchen Reaktor wie in der Ukraine anders. Wir haben dort einen wassergekühlten und wassermoderierten Reaktor, das heißt ein Brand in der Art wie in Tschernobyl stattfand, ist hier nicht möglich. Das heißt, selbst wenn dort Radioaktivität freigesetzt wird, wird diese gar nicht großräumig transportiert.

Diese 15 Reaktoren sind Druckwasserreaktoren in der Ukraine. In welchem Zustand sind sie?

Die Reaktoren in der Ukraine sind zwischen 1985 und Mitte der 90er-Jahre in Betrieb gegangen sind. Das heißt bereits für 30 Jahre bis 35 Jahre ungefähr in Betrieb. Das ist definitiv nicht mehr die neueste Bauart. Sie sind auch etwas anders als westliche Reaktoren.

Ich würde jedoch auch nicht sagen, dass diese Reaktoren extrem unsicher im normalen Betriebszustand sind. Doch gegen militärischen Beschuss sind Reaktoren in den seltensten Fällen ausgelegt.

Können wir uns in Deutschland irgendwie schützen außer mit den Jodtabletten, die schon eingelagert sind?

Die Jodtabletten sind ein zweischneidiges Schwert, weil Jod bei höher Gabe auch Risiken birgt. Insgesamt empfiehlt das Bundesumweltministerium, das Bundesamt für Strahlenschutz die Jodgabe nur bei sehr hoher Belastung. Die hatten wir nicht mal nach Tschernobyl erreicht. Ich rate dringend davon ab, nach eigenem Ermessen Jod zu nehmen. Damit schaden wir mehr als wir nutzen.

Die Nachfrage nach Jodtabletten ist in den vergangenen Tagen gestiegen. Zwar haben die Tabletten eine Schutzwirkung gegen radioaktive Strahlung, doch nehmen eine derzeitige Einnahme ist derzeit nicht notwendig. IMAGO / Manngold

Wie weit strahlt ein Atomkraftwerk wenn es explodiert?

Im September 1957 versagt im russischen Atomkomplex Majak die Kühlung eines Behälters mit hochradioaktiven flüssigen Rückständen aus der Wiederaufarbeitung; es kommt zu einer Explosion. Der radioaktive Fallout treibt 300 Kilometer weit und verseucht eine Fläche von 20.000 Quadratkilometern.

Was passiert wenn in der Ukraine ein Atomkraftwerk explodiert?

Tschernobyl und Fukushima haben gezeigt, welche katastrophalen Folgen die Kernschmelze von Reaktoren haben kann: zehntausende Menschen werden verstrahlt, weite Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar.” Greenpeace fordert den sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine.

Was passiert wenn Tschernobyl explodiert?

Folgen von Tschernobyl für Deutschland: Strahlung, Krebs, heute. Durch radioaktive Niederschläge wurden weite Teile Europas in Folge der Reaktor-Explosion kontaminiert. Auch 35 Jahre nach der Atomkatastrophe sind die Folgen selbst in Deutschland noch spürbar.

Was passiert bei einem Atomunfall?

Was also ändert sich? Die Planungsgebiete sind in Nah-, Mittel- und Fernzone aufgeteilt. Der Radius der Nahzone um ein Kernkraftwerk wird von 2,5 auf fünf Kilometer erweitert. Innerhalb dieses Bereiches sollen die Menschen binnen sechs Stunden nach einem Atomunfall evakuiert sein.