Sieglinde Gros stehen lange Tage bevor. Gestern hat der Weihnachtsmarkt in Michelstadt im Odenwald geöffnet, und sie weiß, dass bis Heiligabend noch viele Menschen einen Blick in ihr Atelier werfen wollen. Es befindet sich in der Kellerei, einem ehemaligen fränkischen Meierhof, dessen Verwaltungsbeamter ursprünglich „Keller“ genannt wurde. Deshalb heißt das ganze Fachwerkgeviert, das an die Stadtmauer grenzt und nur wenige Meter vom berühmten Michelstädter Rathaus entfernt liegt, heute noch so
Im Innenhof der Kellerei stehen nun jahreszeitgemäß geschmückte Buden. Zwischen den Ständen hindurch führt der Weg aber weiter in die kleine Welt der Bildhauerin Gros, die aus drei Räumen voller Skulpturen, unbearbeiteter Holzstämme, einer Werkbank, einer Sägemaschine, Stemmeisen, Kettensägen und vielen Sägespänen besteht. Der einzige Luxus ist ein alter Holzofen, der für etwas Wärme sorgt.
Die Säge ist alternativlos
Seit 1992 ist das Atelier die Wirkungsstätte der gebürtigen Darmstädterin, deren Arbeiten schon auf den ersten Blick nichts mit traditioneller christlicher Holzschnitzerei oder mit Odenwälder Kunsthandwerk zu tun haben. Gros hat sich zwar der menschlichen Gestalt verschrieben, die in diesen Wochen überall als Kind in der Krippe und Mutter Maria zu bestaunen ist. Ihre Figuren liegen aber nicht im Stroh und haben auch nichts Kindliches. Sie wurden vielmehr mit der Kettensäge aus dem Holz herausgeformt, manchmal noch mit dem Stemmeisen leicht nachgearbeitet und später bemalt, ansonsten aber sind sie so belassen, wie Holz nach dem Einsatz einer Säge eben aussieht - voller Spuren, Schnitte, Kerben, Schrunden und Graden.
Wie kommt eine Frau dazu, mit Leidenschaft zur Kettensäge zu greifen, um menschliche Gesichter zu gestalten, Körper von Frauen und Männern sowie großformatige Menschengruppen und feine Holzreliefs, die menschliche Schattenrisse vor Meereswellen oder Hochhauskulissen zeigen? „Irgendwann wurden meine Arbeiten immer größer, und da brauchte ich etwas, um schnell Material abtragen zu können“, sagt Gros über die Anfänge. Mittlerweile ist die Elektrosäge für sie „alternativlos“. Der Weg zu ihrem Dauereinsatz war gleichwohl keineswegs selbstverständlich gewesen, zumal die Kettensäge zu Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit außerhalb des Waldes nicht in Mode war.
„Man kann mit der Kettensäge nicht jeden Schritt planen“
Gros hat sich Anfang der achtziger Jahre an der Staatlichen Fachschule Michelstadt zur Holzbildhauerin ausbilden lassen und besuchte nach drei Jahren als freischaffende Bildhauerin anschließend die Meisterschule in München, deren Prüfung sie 1991 mit Auszeichnung bestand. Dann ergab sich die Gelegenheit, nach Michelstadt zu kommen und die Räume in der Kellerei zu mieten. Hier sind ihre Arbeiten seitdem permanent ausgestellt, man findet sie aber auch in Galerien in Berlin oder Wertheim und auf Einzel- oder Gruppenausstellungen in der Region. Wer das Haus der Wirtschaft in Darmstadt betritt, auf der Tromm im Odenwald den Kunstweg entlangspaziert oder den Dom St. Viktor in Xanten betritt, begegnet ebenfalls Skulpturen von ihr.
Materialreduktion ist für Gros heute längst nicht mehr der Anlass, um zur Säge zu greifen. Sie hat sich inzwischen eine Perfektion angeeignet, die es ihr erlaubt, mit diesem typischen Männer-Werkzeug sehr dosiert vorzugehen, manchmal sogar „liebevoll“, wie sie sagt. Zugrunde liegt jeder Arbeit stets die Idee zu einer bestimmten Figur, die durch den Einsatz der Lieblingsmaschine sich dann aber auf ganz eigene Weise realisiert: „Man kann mit der Kettensäge nicht jeden Schritt planen, manches entsteht zufällig und spontan.“ Das Stemmeisen komme nur zum Einsatz, um abschließend zu „konkretisieren“. Zwar erstellt Gros auch Bronzegüsse, Holz ist aber das Material der ersten Wahl. Die Art spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle, auch weil die Maserung für sie keine Bedeutung besitzt.
Christlich-humanistische Grundwahrheiten
Bei dem Holzbildhauer-Symposion „Skulpturale“ im Oldenburger Land wurden Gros’ Skulpturen vor ein paar Jahren als „Gezeichnete“ beschrieben. Gemeint waren damit nicht nur die Sägespuren auf den fast immer schmalen, langen und in den Proportionen überzogenen Holzkörpern, die mit dem Sockel stets ebenso fest verbunden sind wie in der Gruppe mit ihrem Gegenüber. Die menschliche Gestalt ist bei ihr auch als Gruppenwesen gekennzeichnet, das einerseits auf eigenen Füßen steht, andererseits aber in einer engen Beziehung zu anderen. Gros’ Menschen sind also „allein in Gemeinschaft“, sie stehen aufrecht und streben in die Höhe, sind zugleich aber verletzlich und durch das Leben gezeichnet.
Man kann eine solche Darstellung der menschlichen Gestalt als „existentialistisch“ bezeichnen, man kann darin aber auch christlich-humanistische Grundwahrheiten wiedererkennen, ohne gleich an ein Kruzifix zu denken, an dem die christliche Symbolfigur des „Gezeichneten“ hängt. Sicher ist, ein Besuch des Ateliers von Sieglinde Gros passt sehr gut zur Weihnachtszeit. Vermutlich besitzt Michelstadt mit der Werkstatt dieser Bildhauerin, die während des Marktes an allen Tagen geöffnet hat, sogar ein Alleinstellungsmerkmal. Gros macht jedenfalls immer wieder die Erfahrung, „dass viele Besucher erstaunt sind, so was bei uns zu finden“.
Das Atelier ist im Kellereihof in Michelstadt, Einhardspforte 3.