Warum starb Rio Reiser so früh?

Zwei unsterbliche Deutsche ruhen nicht auf öffentlichen Friedhöfen: Franz Josef Strauß und Rio Reiser wurden auf privatem Grund beerdigt. Strauß in der Familiegruft von Rott am Inn und Reiser hinter seinem nordfriesischen Bauernhaus in Fresenhagen unter einem Apfelbaum. Die Gräber dienen den jeweiligen Anhängern als Wallfahrtsort. Die einen würden mit den anderen lieber nichts zu schaffen haben. Nur, so einfach macht es die Geschichte niemandem.

Die ersten öffentlichen Lieder stimmte Rio Reiser noch unter dem Taufnamen Ralph Möbius in den früheren sechziger Jahren an, als er mit seinen Brüdern und ihrer gemeinsamen Theatergruppe quer durch Bayern reiste, um die Landbevölkerung mit Volksmusik und Beatles-Liedern davon abzubringen, Strauß und dessen CSU zu wählen. Reiser zeigte sich damals besessen von der Theorie, die Beatmusik stamme von bayrischer Folklore ab. Als Strauß die Kanzlerschaft anstrebte, 1980, fühlte Reiser sich verpflichtet, für die Grünen in den Kampf zu ziehen mit der Hymne "Das ist unser Land". Die Grünen kamen zwar nicht an die Macht im Bund, Strauß aber auch nicht.

"Keine Macht für niemand", "Alles verändert sich", "Macht kaputt, was euch kaputt macht". Heute geistern die Parolen Rio Reisers und der Band Ton Steine Scherben durch den deutschen Zitatenwald, als stammten sie von Pluderhosen und Perücken tragenden Dichterfürsten. Reiser ist seit 1996 tot. Er starb am 20. August, angeblich, weil der Kreislauf kollabierte, und vermutlich an den Folgen des gewöhnlich exzessiven Künstlerlebens, 46jährig. Reiser hinterließ nicht nur einen der prachtvollsten und schönsten deutschen Liederschätze. Sondern auch eine künstlerische Figur, die sich bereits zu Lebzeiten kaum wehren konnte gegen die bizarrsten Projektionen, Inbesitznahmen, Erwartungen und zugewiesenen Stellvertreterrollen. Reiser wollte für sich selber mehr und für seine erlösungssüchtige Gemeinde weniger sein: ein Autor, Interpret und Nutznießer vollkommener, zu Herzen gehender und emsig konsumierter Popsongs. Was politisches Gedankengut nie ausschloss; AgitProp hielt Reiser allerdings in seinen besten Jahren nicht für zwingend. Lieder wie "Halt dich an deiner Liebe fest" und "Junimond" zogen mehr Zorn kapuzentragender Veteranen auf sich als ein öffentliches Bundeswehrgelöbnis.

Es gibt Hinterbliebene, die salben ihn postum zum König deutscher Popmusik. Es gibt die arrivierten Alt-Anarchos, die "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" im Feierabend-Rausch von der Terrasse grölen. Es gibt Rechte, die bei NPD-Aufmärschen Lieder von Ton Steine Scherben in Gesichter verdutzter Gegendemonstranten schmettern. Rio Reisers früh versiegtes Schaffen bleibt ein steter Quell für Biografen, Regisseure, Rockbands und die zwei gern um den Nachlass streitenden Familien: seine Scherben-Erben und die leibliche Familie Möbius. Es gibt Claudia Roth, die als Parteivorsitzende der Grünen unablässig darauf hinweist, Reiser und die Band gelegentlich betreut zu haben. Alle sagen Rio Reisers "Ich will ich sein, anders kann ich nicht sein" auf - wie ein verwirrender Theaterchor in einem dieser Stücke über einen, der fest daran glaubte, Kunst und Leben seien nicht zu trennen. Deutsche Sänger sehen das normalerweise anders, und so singen sie dann auch.

Das Stück vom Leben des Ralph Christian Möbius sollte davon handeln, wie er seine erste Platte stolz nach Hause trug, Marlene Dietrichs "Bitte geh nicht fort". Wie er im Kinderzimmer komponierte oder Krippenspiele inszenierte. Die mickjaggerhafte Stimme brachte ihn mit 16 in die Frankfurter Lokalkapelle Surfriders. Berlin erlebte 1967 "Robinson 2000" im Theater des Westens: der Gebrüder Möbius' Weltpremiere einer Beatoper. Schon ein Jahr später saß der ZDF-Zuschauer in der ersten Reihe eines Fernseh-Singspiels mit dem Titel "Beat aus dem Leierkasten - Eine Band sucht einen Hit". Ralph Möbius trat mit der Theatergruppe Rote Steine auf, mit dem Hoffmann Comic Teater und ab 1970 mit der daraus hervorgegangenen Rockband Ton Steine Scherben. Ihr erstes Konzert fand statt beim "Festival der Liebe" von Beate Uhse auf Fehmarn nach dem letzten Auftritt Jimi Hendrix'. Als sie "Macht kaputt, was euch kaputt macht" spielten, zündete das Publikum die Bühne an.

Die Scherben musizierten unter Georg Büchners "Friede den Hütten, Krieg den Palästen", schwangen Mao-Reden und rumpelten Brecht-Eislers "Einheitsfrontlied". Zeitgemäß sympathisierten sie mit SDS, RAF, Hausbesetzern und nahmen alles persönlich. Vom Geschlechterkampf bis zur Preispolitik des öffentlichen Nahverkehrs. Sie ließen Platten pressen, druckten dafür Hüllen auf der Rotationsmaschine der Kommune 1; sie tüteten die Platten eigenhändig ein und trugen sie zu Buchhändlern, die Trotzki und Bakunin führten. Ihr Humor wird häufig unterschätzt: Die Rückseite des ersten Albums "Warum geht es mir so dreckig" wurde mit dem Bild beklebt, das Jim Rakete auf der Maidemo für Axel Springer und dessen "B.Z." geschossen hatte. Es war das Berlin der frühen siebziger Jahre, das Ralph Möbius noch als großäugigen, barfüßigen Vorsänger der Spontiszene sah. "Irgendwann wussten wir nicht mehr, ob wir jetzt schreiend mit einem Maschinengewehr auf die Straße stürzen oder uns mit der Gitarre in den Rinnstein setzen sollten", sagte Reiser später.

Die Geschichte handelt fortan von Enttäuschung und Verrat und ruinöser Selbstausbeutung. Von der RAF erfuhr die Band, sie sei für den "antiimperialistischen Kampf unbrauchbar". Sie wurde ausgebuht, wenn sie Carl Perkins und Gene Vincent spielte. Ihre großartigen Alben, "Wenn die Nacht am tiefsten" oder "Scherben IV", galten als eskapistische Schandtaten einer Neuen Innerlichkeit. Und als sie 1975 während eines Solidaritätskonzerts die eigenen Schmalzbrote bezahlen sollten für die gute Sache, flohen sie aufs Land nach Fresenhagen. Weil Ralph Möbius fand, sein Name klinge ohnehin nach Arztromanen, nannte er sich Rio Reiser anlässlich seines ersten großen Filmauftritts, in "Johnny West".

Die Band ging keineswegs an linken Dogmen, an Verbürgerlichung oder Eitelkeit zu Grunde. Sie war 1982 schlichtweg pleite. Statt in Hitparaden fanden sich die Scherben bei der Wahlkampftour der SPD oder der Grünen Raupe wieder. Statt für ihren Lebensunterhalt ließ Claudia Roth sie für Atomkraftgegner oder Nicaragua musizieren. In den siebziger Jahren wurde Rio Reiser von der Polizei besucht, in den Achtzigern von Gerichtsvollziehern. Selbstgerechte nörgelten an seinen Songs herum, die homophobe Basis reagierte feindselig auf Rio Reisers sonst kaum übertrieben ausgestelltes Schwulsein und auf Auftritte mit dem Theater Brühwarm und dem Aktivisten Corny Littmann.

1985 lösten sich Ton Steine Scherben auf, und Rio Reiser ging zur Plattenfirma CBS und hielt sich einen anerkannten Deutschrock-Manager. Er lief damit gewissermaßen über. Bei der Industrie erschien sein Album "Rio I" mit zarten Hits wie "Junimond" und Stimmungsliedern wie "König von Deutschland". Die Protestsongs überließ er Bands wie BAP und legte irrwitzige Playback-Auftritte im Fernsehen hin mit seiner Band Die Stricher, als Programmpunkt zwischen Modern Talking und Klaus Lage. 1994 resümierte Reiser in den Lebenserinnerungen "König von Deutschland": "An einem Donnerstag befiel mich der Gedanke, auf den Strich zu gehen. Ich war bereit, mich einer Plattenfirma hinzugeben. Natürlich nur gegen ein angemessenes Entgelt." Rio Reiser galt im Kreuzberger Milieu der Achtziger als desertierter Schlagerfuzzi. Auch wenn er in Wackersdorf sang. Oder 1987 beim Parteitag der Grünen, als Otto Schily den Deutschen für staatliche Zeremonien Rio-Reiser-Songs statt Militärmusik versprach - sollte er, Schily, je in den Genuss der Staatsmacht kommen.

1988 tat die DDR sich auf für Rio Reiser. Am 2. Oktober sah er sich in der Werner-Seelenbinder-Halle einem Publikum gegenüber, das die Parolen der Ton Steine Scherben zu schätzen wusste wie die flehentlichen Liebenslieder. Wie die an der Bibel und Karl May geschulte Lyrik. Wie die Irrtümer und Widersprüche. Ein paar tausend Menschen, die ihn als Poeten sahen, weniger als Propheten. Rio Reiser sang in einer seltsam fremden und vertrauten Stadt, die bereits erste Anzeichen der Anarchie erkennen ließ, und fühlte sich zu Hause. "Ich kann nicht als Museumsstück leben", sagte er befreit der Zeitschrift "Melodie & Rhythmus". Seine Platte "Rio***" wurde zugleich bei CBS und Deutsche Schallplatte veröffentlicht, in West und Ost. Im Osten waren 150 000 umgehend vergriffen, und im Westen lagen sie herum in den Regalen. Für die Single "Zauberland" nahm Rio Reiser in Brandenburg in einem früheren Pionierlager das Lied "Ich komm nicht mehr nach Haus" auf. 1990 reiste er durch die zusammengebrochene DDR, zum ersten Mal verdiente Reiser auf der Bühne mehr Geld, als er dafür ausgab. Ankunft eines Sängers. Dass er sich zum Karnevalsbeginn desselben Jahres noch das PDS-Parteibuch überreichen ließ von Gregor Gysi, hat mit dieser Ankunft einiges zu tun.

"Unser bester Texter" (Herbert Grönemeyer), "Kultfigur" (CBS), "König von Deutschland" (Rio Reiser): jedem seinen Rio. Kurz vor Reisers Tod, auf seinem letzten Album, heißt es noch: "Nehmt mir die Krone weg/ Nehmt sie zurück/Ich kann euch nicht führen/ Denn ich weiß den Weg nicht." Als sein Sarg am Fresenhagener Apfelbaum vergraben worden war, fand im Berliner Tempodrom das große Requiem, ein Konzert seiner Gemeinde statt. Unter dem Motto: "Rio lebt, weil wir noch nicht gestorben sind". Da kommt noch einiges auf ihn zu.

Zum zehnten Todestag erschienen: Hollow Skai: Rio Reiser. Das alles und noch viel mehr. Die inoffizielle Biografie des Königs von Deutschland. Heyne, München. 287 S., 18,95 Euro

Warum ist Rio Reiser gestorben?

KreislaufversagenRio Reiser / Todesursachenull

Warum wurde Rio Reiser umgebettet?

Der muss nun verkauft werden, weil der Unterhalt für Reisers Familie zu teuer wurde. Deshalb wird der Leichnam des Sängers nach Berlin überführt. Er war eine Ikone der linken Szene, damals in Berlin-Kreuzberg während der 70er und frühen 80er-Jahre: Rio Reiser mit seiner Band Ton Steine Scherben.

Wie alt ist Rio Reiser geworden?

46 Jahre (1950–1996)Rio Reiser / Alter zum Todeszeitpunktnull

Woher kommt der Name Rio Reiser?

Berlin, DeutschlandRio Reiser / Geburtsortnull