War Frankreich immer in der NATO?

Merkel und Macron vermitteln erstmals seit Jahren im Ukraine-Konflikt. Ausgerechnet jetzt distanziert sich Frankreichs Präsident von der Nato. Die Sicherheitsexpertin de Hoop Scheffer sagt, Macrons Politik sei auch im Interesse Deutschlands.

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WELT: Frau de Hoop Scheffer, was unterscheidet das Verhältnis der Franzosen von dem der Deutschen oder Osteuropäer zur Nato?

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Alexandra de Hoop Scheffer: Die Franzosen haben die Nato noch nie als lebensnotwendigen Schutz vor einer existenziellen Bedrohung ihres Landes wahrgenommen. Unter Politikern ist sie bis heute ein umstrittenes Thema. Die Deutschen hingegen betrachten die Nato als wichtigsten Garanten der Sicherheit in Europa, weshalb sie europäische Sicherheits- und Verteidigungsfragen im Wesentlichen durch das Prisma der Nato betrachten.

Die zentrale Rolle der Nato in der deutschen Sichtweise geht natürlich zurück auf das transatlantische Verhältnis, das immer noch als lebenswichtig für die Allianz wahrgenommen wird. Dieses Gefühl ist in Mittel- und Osteuropa noch stärker, während Frankreich die Notwendigkeit betont, die europäische Verteidigung als Ergänzung zur Nato ausbauen zu müssen.

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WELT: Es gibt historische Unterschiede, aber offensichtlich auch Differenzen in der Analyse der Gegenwart?

de Hoop Scheffer: Richtig. Frankreich ist extrem besorgt darüber, dass viele Alliierte das langfristige Engagement der Vereinigten Staaten für die europäische Sicherheit für gegeben halten. Paris ist davon überzeugt, dass die USA mehr und mehr versuchen, die Last der Verteidigung mit ihren Partnern zu teilen, weshalb die Europäer sich darauf vorbereiten müssen, strategisch und operationell eigenständiger zu werden.

Das gilt vor allem in Afrika und im Nahen Osten, wo Frankreich versucht, seine eigenen Militäroperationen im Kampf gegen den Terrorismus zu „europäisieren“, während die USA ihre Haltung in der Region überprüfen und neu ausrichten. Je mehr die Europäer ihre Kooperations- und Interventionsfähigkeit unter Beweis stellen, desto weniger hängen sie von einem amerikanischen Verbündeten ab, der immer wählerischer und unberechenbarer geworden ist.

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WELT: Hat Macron die geheime Absicht, die Nato in Schwierigkeiten zu bringen und langfristig durch eine europäische Armee unter französischer Führung zu ersetzen?

de Hoop Scheffer: Frankreichs Präsident ist kohärent und wiederholt im Grunde nur, was er schon in der Vergangenheit gefordert hat, nämlich das Erwachen der europäischen Staaten, die die tief greifende Veränderung der Welt und der transatlantischen Partnerschaft nicht sehen wollen und somit Gefahr laufen, jegliche strategische Schlagkraft zu verlieren und im neuen geopolitischen Wettbewerb zwischen China und den USA zerrieben zu werden.

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de Hoop Scheffer: In den vergangenen Monaten hat Macron die Rolle des Vermittlers zwischen dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten an sich gerissen. Er hat nicht nur viel in das franko-russische Verhältnis investiert, sondern auch in das zum neuen ukrainischen Präsidenten. Sein Ziel ist, die Verträge von Minsk umzusetzen. Allein die Tatsache, dass ein erneutes Treffen stattfindet, ist ein Erfolg – seit 2016 kommen die vier Partner, Russland, die Ukraine, Frankreich und Deutschland zum ersten Mal zusammen.

Entscheidend für diese Initiative ist es, dass sie jetzt unter französisch-deutscher Führung fortgesetzt wird, weil das die gesamte EU mit einbezieht. Macron ist der Auffassung, dass es jetzt, nach der Wahl von Selenskyj, ein zeitliches Fenster gibt, weil die Bevölkerung der Ukraine sich ein Ende dieses Konflikts wünscht.

Selenskyjs Handlungsspielraum ist aber denkbar klein, weil die Ukrainer zwar ein Ende des Krieges wollen, aber nicht um jeden Preis. Durch die Auflösung der politischen Blockade hätte Macron die Möglichkeit, seine europäischen Partner zu beruhigen, die seinen Alleingang mit Putin nicht schätzen. Alle, selbst Putin, haben erst einmal Interesse daran, dass dieses Treffen im Normandie-Format ein Erfolg wird.

WELT: Inwiefern steht Macron in französischer Tradition?

de Hoop Scheffer: Frankreich hängt traditionell eher an der militärischen denn an der politischen Allianz, weshalb man Macrons Neuausrichtung durchaus als interessante Wende bezeichnen kann: Seine persönliche Vision der Nato ist bemerkenswert unfranzösisch, weil er der Auffassung ist, dass die Allianz eine sehr viel politischere Rolle spielen müsse, und dazu aufruft, strategische Diskussionen über alle offenen Fragen ins Zentrum der Organisation zu stellen: das Verhältnis zu Russland, zur Türkei, zu China, die Fragen von Frieden und Sicherheit in Europa, die Rüstungskontrolle und die neuen Technologien, anstatt sich einzig auf eine eng gefasste Verteidigung und das Aufteilen der finanziellen Last zu konzentrieren.

Die Krise der Nato lässt sich nur überwinden, das scheint seine Überzeugung, wenn die Verbündeten eine Antwort auf diese neuen Herausforderungen zu geben vermögen. Da der politische Impuls nicht mehr aus Washington kommt, hat Paris diese Aufgabe übernommen und vorgeschlagen, die Herausforderungen der kollektiven Sicherheit und den Zweck der Nato zu analysieren und neu zu definieren.

Es geht darum, die Frage zu beantworten, wie eine Organisation des 20. Jahrhunderts auf die geopolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhundert reagiert. Macron ist nicht der Einzige, der das fordert. Offensichtlich kann er dabei auch auf die neue Europäische Kommission zählen, die seine geopolitische Vision Europas teilt, das von außen herausgefordert wird.

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de Hoop Scheffer: Frankreichs Vorschlag, die politische Strategie der Nato neu zu definieren, ist weder neu noch sehr originell. Mich überraschen deshalb die völlig unangemessenen Reaktionen auf seine Äußerungen zum „Hirntod der Nato“. Diese Fragen sind in Wahrheit seit Ende des Kalten Krieges immer wieder gestellt worden, was die Nato in eine permanente Existenzkrise gestürzt hat.

Die Nato musste sich nach dem Zweiten Weltkrieg und den Herausforderungen des Kalten Krieges und dann erneut nach den Attentaten vom 11. September 2001 neu erfinden und ihre Missionen ausweiten bis nach Afghanistan und in den Irak.

Durch diese vielfältigen, neuen Missionen ist die Allianz in den Augen der Amerikaner abgerutscht. Sie hat sich in eine Art Werkzeugkasten verwandelt. Die meisten Alliierten, auch die Deutschen, waren der Auffassung, dass die Nato nicht mehr der Ort war, strategische Fragen zu klären.

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de Hoop Scheffer: Frankreichs Geschichte innerhalb der Nato ist eng verknüpft mit seiner transatlantischen Strategie. Als Präsident Charles de Gaulle 1966 die Entscheidung traf, Frankreich aus der integrierten Kommandostruktur zurückzuziehen, obwohl das Land ein aktives Mitglied der Nato blieb, hat er damit symbolisch die Sonderrolle festgeschrieben.

Traditionell war es seitdem immer auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen seiner Zugehörigkeit zur Nato und seiner außen- und sicherheitspolitischen Unabhängigkeit. Frankreichs Bemühungen um eine militärische Kooperation der Europäer werden vor allem von den Deutschen und den osteuropäischen Ländern als eine indirekte Schwächung der transatlantischen Bindung wahrgenommen.

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70 Jahre ist die Nato nun alt. Donald Trump traf sich zum Abschluss noch mit Kanzlerin Merkel und zeigte sich zahm. Keine scharfen Attacken in Sachen Verteidigungsausgaben, stattdessen Lobeshymnen auf das Bündnis.

Quelle: WELT / Sebastian Plantholt

Das ist ein Missverständnis, und es ist höchste Zeit, es zu überwinden: Frankreich ist für die Vertiefung der europäischen Kooperation im Rahmen der EU als Ergänzung der Nato, nicht als Alternative. Frankreich ist wirklich der Auffassung, dass in Sachen Sicherheit und Verteidigung alle Formate, bilaterale, multilaterale und minilaterale, genutzt werden sollten.

Zehn Jahre nach seiner Rückkehr in die Nato 2009 und trotz der Teilnahme an Nato-Einsätzen auf dem Balkan, in Afghanistan und den Nato-Initiativen in Mitteleuropa und den baltischen Ländern ist Frankreich das Image des Außenseiters nicht losgeworden. Wir müssen jetzt dringend falsche Zuschreibungen überwinden und Pseudodebatten beenden, die nur die Wahl zwischen transatlantischer oder europäischer Ausrichtung lassen, weil sie uns nicht weiterbringen und verhindern, dass wir koordiniert Antwort geben auf die strategischen Herausforderungen der Zeit.

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Vor dem Nato-Treffen in London hat Macron mit seiner Hirntod-Aussage für Wirbel gesorgt. Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hält diese Diagnose für übertrieben. Aber auch er sieht Handlungsbedarf.

Warum ist Frankreich nicht in der NATO?

Zunächst auf 20 Jahre begrenzt, wurde er wegen des anhaltenden Kalten Krieges 1969 auf unbestimmte Zeit verlängert. Das NATO-Hauptquartier war zunächst in London und ab 1952 in Paris ansässig. Wegen Frankreichs Rückzug aus der militärischen Integration des Bündnisses wurde die Zentrale 1967 nach Brüssel verlegt.

Welche Länder sind nach 1997 der NATO beigetreten?

In einem Referendum sprachen sich 1997 85,3 % der Ungarn für eine NATO-Mitgliedschaft ihres Landes aus. Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurden Polen, Tschechien und Ungarn erstmals Beitrittsverhandlungen angeboten, später auch weiteren osteuropäischen Staaten.

Welches Land ist nicht in der NATO?

Sie dient der militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und 20 europäischen sowie asiatischen Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind (hauptsächlich die ehemaligen Sowjetrepubliken, Bosnien und Herzegowina und Serbien sowie Irland, Malta, Österreich und die Schweiz).

Wer sind die NATO Mitgliedsstaaten?

Diese 30 Länder gehören zur NATO: Portugal, Norwegen, Niederlande, Luxemburg, Kanada, Italien, Island, Frankreich, Belgien, Dänemark, Vereinigte Staaten, Großbritannien, Türkei, Griechenland, Polen, Spanien, Deutschland, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Litauen, Estland, Litauen, Slowenien, Slowakei, Rumänien, Albanien, ...