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Erstellt: 07.01.2022, 09:46 Uhr
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Comedian Sascha Grammel erklärt, wie er seine berühmten Puppen zum Leben erweckt – und seinem Bauch das Reden beibringt
Einmal ist mir etwas Verrücktes passiert: Ein Blinder hat mich an der Stimme erkannt. Ich bin unterwegs auf Tour in einen ICE gestiegen und habe beim Einsteigen wohl irgendetwas zum Schaffner gesagt. Da sagte plötzlich neben mir ein Mann mit Blindenstock: „Hallo Herr Grammel? Ich kenne Sie aus dem Fernsehen!“ Für ihn hatte das Medium Stimme natürlich eine ganz besondere Bedeutung. Das hat mich fasziniert. Bei meinen Shows spreche ich allerdings nur etwa zur Hälfte in meiner normalen Stimme. Den Rest bestreiten meine Puppenkumpels: die zuckersüße Schildkrötendame Josie, der freche Adler-Fasan Frederic Freiherr von Furchensumpf, der teilvegane Burger Professor Dr. Peter Hacke, Strumpfsocke Außer Rüdiger, der Außerirdische Herr Schröder mit seiner Sternschnuppe Ursula, Känguru Achim oder der schnodderige Katzenfisch Mieze.
Ich bin damals über die Zauberei zum Bauchreden gekommen. Als Kind habe ich schon mit dem Zauberkasten meines älteren Bruders geübt und bin später nach vielen Jahren Übung auch als professioneller Zauberkünstler aufgetreten. In einem Jonglierladen, in dem ich nach neuen Zauberutensilien stöberte, ist mir dann ein Buch über Bauchreden in die Hände gefallen. Ich dachte: Oh, wie interessant! Ich habe es gekauft, gelesen und dann aber schnell festgestellt: Das kann ich nicht. Zu reden, ohne die Lippen zu bewegen, das ist wie eine neue Sprache zu lernen. Ventriloquistik heißt übrigens der Fachausdruck.
Man braucht zum Bauchreden keine besondere Anatomie. Was man braucht, ist viel Zeit und Willen. Im Prinzip lernst du noch einmal sprechen, nur auf andere Art. Bei der neuen Lautbildung hat jeder Laut eine andere „Technik“. Besonders kompliziert sind hier die Laute V, W, P, B, M und F, weil man bei ihnen für gewöhnlich die Lippen benutzt. Bauchreden bedeutet aber im Grunde: Reden OHNE Lippenbewegung. Die Stimme kommt dabei auch nicht aus dem Bauch, sondern wie gewöhnlich aus dem Mund. Man darf es halt nur nicht sehen. Und genau das ist das Schwierige daran.
Vereinfacht gesagt ist es so, dass die Zunge im Zusammenspiel mit den Frontzähnen die Unterlippe ersetzt. Du lernst also zum einen neue Bewegungen der Zunge, und auf der anderen Seite darfst du bestimmte Bewegungen der Unterlippe, die du dir schon beim Sprechenlernen als kleines Kind angeeignet hast, nicht mehr machen. Bei dem Wort „Wasser“ zum Beispiel darf sich die Unterlippe beim W nicht mehr an die obere Zahnreihe bewegen. Stattdessen bildet nun die Zunge im Inneren des Mundes an den Frontzähnen den W-Laut.
Am Ende kann man mit jeder verstellten Stimme auch „bauchreden“. Da man auf der Bühne abwechselnd „normal“ redet und im nächsten Moment „bauchredet“, oft sogar im schnellen Wechsel, muss man jedes Mal eine Art Schalter im Gehirn umlegen – sonst vermischt sich beides. Es ist ein bisschen so, wie wenn man in seiner Küche umräumt und die Teller in den Schrank stellt, in dem vorher die Tassen waren. Das dauert auch, bis man den Wechsel automatisch draufhat und nicht immer zuerst in den falschen Schrank greift.
Ich habe für die Sprechtechnik ungefähr ein Jahr gebraucht. Ich habe ständig geübt, sogar beim Autofahren, bei jeder roten Ampel im Rückspiegel. Es gibt auch bestimmte Kombinationen von Vokalen und Konsonanten, die sehr schwer auszusprechen sind, zum Beispiel, wenn ein langgezogenes U auf ein T folgt. Oder andersrum. Bereits beim Texten versuchen wir das zu berücksichtigen. Zum Beispiel sage ich lieber Vati als Papi. V ist einfacher zu sprechen als P. Das geht natürlich bei einem Werbespot nicht so leicht – da kann ich ja nicht einfach Sanyo statt Philips sagen.
Wir schreiben zu dritt, eine Autorin und ein Autor gehören zum Kreativ-Team. Zusammen wird bei uns alles bis ins Detail durchdacht und geplant, viel gestrichen, ergänzt und diskutiert. Am Ende lerne ich das Skript auswendig wie ein Schauspieler. Es ist nämlich nicht so, dass man einfach spontan perfekt sprechen kann, ohne die Lippen zu bewegen. Das dachten anfangs die Fernsehleute manchmal, wenn wir eine Sendung aufnahmen. „Mach doch noch mal kurz eine Überleitung zum nächsten Thema“, hieß es dann. Das geht aber nicht so einfach. Da bin ich wie ein Musiker, der plötzlich ein fremdes Stück ohne Noten spielen soll. Irgendwie geht das schon, aber eben nicht perfekt.
Meine eigene Stimme klingt anders, wenn ich bauchrede. Deshalb ist es praktisch, dass ich die Stimme verstelle, während ich die Puppen sprechen lasse – da gibt es keine Referenz zu meiner normalen Stimme. Niemand kann sagen: Das hört sich aber komisch an!
Schwierig ist: Die Zuschauerinnen und Zuschauer lachen über die Gags und bewerten nicht technisch, was ich tue. Ich bekomme also vom Publikum leider kein Feedback über die Bauchredetechnik. Um also langfristig beim Bauchreden nicht schlechter zu werden, heißt das Zauberwort „Selbstreflexion“. Man muss sich immer wieder selbst kontrollieren. Hier helfen Videoaufnahmen der Liveshows oder auch ehrliches Feedback vom Team. Eine kurze Info nach der Show zum Beispiel vom Kameramann: „Der eine Satz von Professor Hacke, da hat man die Mundbewegungen total gesehen“ ist da Gold wert.
Aber ich bin Perfektionist. Ich übe so lange, bis alles sitzt. Es ist ja wie beim Zaubern. Wenn man einen kurzen Moment den Faden aufblitzen sieht, schwebt die Kugel eben nicht. Viele fragen mich, wie ich auf meine Ideen für die Dialoge komme. Machen Sie doch mal ein Experiment: Unterhalten Sie sich zehn Minuten lang mit sich selbst. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Ungefiltert! Sie werden staunen, was dabei entsteht. Sie werden Dinge sagen, von denen Sie noch gar nicht wussten, dass sie in Ihrem Kopf sind.
Neue Elemente teste ich erst mal im Kulturhaus meines Berliner Heimatbezirks Spandau. Dort sind die Leute sehr ehrlich, ich bekomme eine direkte Reaktion auf meine neuen Texte. Wenn ein Witz nicht ankommt, streiche ich ihn. Manchmal streiche ich auch selbst, wenn mir etwas doch unpassend vorkommt.
Wie zum Beispiel einen Witz über die Bahn: Zu Beginn der Nummer mit meiner niedlichen Schildkrötendame Josie klappt sie unten an ihrem Brustpanzer eine Klappe hoch und man sieht kurz ihre Augen. Dann sagt sie: „Da bin ich!“ Daraufhin geht die Klappe wieder zu und sie ruft: „Und jetzt bin ich wieder weg!“ (Klappe auf) „Und jetzt bin ich wieder da!“ (Klappe zu) „Und wieder weg!“ (Klappe auf) „Und wieder da!“ (Klappe zu) „Und wieder weg! Wie das Internet im ICE. Der Gag kam immer an. Aber ich fühlte mich dabei irgendwie schlecht. Die Zuschauer freuten sich auf eine süße kleine Schildkröte mit Kulleraugen und auf Josies Welt. Mit diesem Witz holte ich aber den Alltag auf die Bühne. Das möchte ich eigentlich nicht. Und ich möchte auch nicht, dass sich womöglich Bahn-Mitarbeiter im Publikum dadurch schlecht fühlen. Witze auf Kosten anderer mag ich generell nicht. Die Menschen sollen sich wohlfühlen, wenn sie in meine Show kommen, einfach einen schönen Abend erleben.
Unser neues Programm heißt „Fast fertig“. Wegen der Pandemie konnten wir es allerdings noch nicht oft live aufführen. Meine gesamte Crew und ich stehen bereits in den Startlöchern. Ich glaube, die Menschen da draußen brauchen mal eine seelische Pause von den ganzen Problemen und Ängsten der aktuellen Lage. Sie brauchen positive Gefühle und müssen auch mal wieder herzhaft lachen können. Und genau das ist mein Job. Das ist das, was ich kann und was mich ausfüllt: Menschen für zwei Stunden aus ihrem Alltag zu entführen – in meine kleine heile Grammel-Welt.