Algebraische zahlen vom grad 1 gleich rationale zahlen beweis

Nach der Entdeckung der irrationalen Zahlen durch die Griechen dauerte es sehr lange, bis eine weitere markante Menge von reellen Zahlen ins Auge gefasst und als eine echte Teilklasse von  erkannt wurde:

Definition (algebraische Zahlen, 𝔸, deg (x))

Eine reelle Zahl x heißt algebraisch (über ), falls es rationale Zahlen a0, …, ak ∈ , ak ≠ 0, gibt mit:

(+) ak xk +  …  + a1 x + a0 = 0.

Wir setzen weiter 𝔸 = { x ∈ | x ist algebraisch }.

Für x ∈ 𝔸 ist der Grad von x, in Zeichen deg (x), definiert durch:

deg (x) = „das kleinste k, für das a0, …, ak ∈ , ak ≠ 0 existieren mit (+)“.

Die algebraischen Zahlen sind also genau die Nullstellen der nichttrivialen reellen Polynome mit rationalen Koeffizienten. Multiplizieren wir ein solches Polynom mit einem gemeinsamen Vielfachen der Nenner seiner Koeffizienten, so zeigt sich, dass wir uns sogar auf ganzzahlige Koeffizienten beschränken könnten. Multiplizieren wir ein solches Polynom dagegen mit 1/ak, so erhalten wir ein normiertes Polynom (d. h. der Leitkoeffizient ak ist gleich 1) mit x als Nullstelle. In diesem Fall können wir natürlich nicht mehr aufrechterhalten, dass die anderen Koeffizienten ganze Zahlen sind. Die Kombination „normiert + ganzzahlige Koeffizienten“ führt zu einer wichtigen speziellen Klasse von algebraischen Zahlen, den sog. ganzen algebraischen Zahlen.

Die Untersuchung der algebraischen Zahlen beginnt mit Gauß ab etwa 1830. Verbunden mit dieser Struktur ist aber vor allem der Name Richard Dedekind. Dedekinds Arbeiten zur Theorie der algebraischen Zahlen wurden zunächst 1871 und 1894 als Supplemente der Dirichletschen „Vorlesungen über Zahlentheorie“ veröffentlicht. Sie finden sich heute am einfachsten in der Werkausgabe [ Dedekind 1930 − 1932 ]. Daneben hat Leopold Kronecker bereits 1882 seine „Grundzüge einer arithmetischen Theorie der algebraischen Größen“ veröffentlicht. Im Jahr 1896 erschien dann der bedeutende Hilbertsche Bericht „Die Theorie der algebraischen Zahlkörper“.

Der goldene Schnitt ist eine algebraische Zahl, die nicht rational ist. Weiter liefert der Satz von Gauß viele Beispiele nichtrationaler algebraischer Zahlen. Zudem ist jede rationale Zahl selbst algebraisch. Es gilt also sicher 𝔸 ⊃ , der Nullstellenabschluss von  führt zu einer echten Erweiterung. Eine natürliche Frage ist nun, ob ein analoger Abschluss der algebraischen Zahlen unter Nullstellen von Polynomen mit algebraischen Koeffizienten wieder eine echte Erweiterung von 𝔸 erzeugt. Dies ist nicht der Fall. Die Iteration der Idee führt also zu nichts Neuem mehr. Man kann diese Tatsache mit algebraischem Grundwissen und entsprechendem Vokabular elegant zeigen. Wir geben hier einen relativ einfachen elementaren Beweis, der lediglich einige Hilfsmittel der linearen Algebra verwendet. Er geht auf Dedekind zurück (vgl. [ Bachmann 1905 ]). Zunächst zeigen wir die Abgeschlossenheitsaussage für normierte Polynome mit algebraischen Koeffizienten:

Satz (Abgeschlossenheitssatz für die algebraischen Zahlen)

Seien a0, …, ak − 1 ∈ 𝔸, und sei x ∈ derart, dass

xk + ak − 1 xk − 1 +  …  + a1 x + a0 = 0.

Dann ist x ∈ 𝔸.

Beweis

Für 0 ≤ i < k seien ni ∈ und bi, j ∈ , 0 ≤ j < ni derart, dass

aini + bi, ni − 1 aini − 1 +  …  + bi, 1 ai + bi, 0 = 0.

Sei p = k · n0 · n1 · … · nk − 1, und sei z1, z2, …, zp eine Aufzählung aller Produkte der Form

xe a0e0 a1e1 … ak − 1ek − 1,

mit 0 ≤ e < k, 0 ≤ e0 < n0, …, 0 ≤ ek − 1 < nk − 1.

Dann gilt für alle 1 ≤ i ≤ p:

(#) x zi ist eine Linearkombination von z1, …, zp mit rationalen Koeffizienten, d. h. es gibt ci, 1, …, ci, p ∈ mit ci, 1 z1 +  …  + ci, p zp − x zi = 0.

Beweis von (#)

Sei zi = xe a0e0 a1e1 … ak − 1ek − 1 für gewisse e, e0, …, ek − 1.

Gilt e + 1 < k, so ist x zi sogar ein zi ′.

Wir nehmen also an, dass e + 1 = k gilt.

Wir ersetzen nun in x zi = xk a0e0 a1e1 … ak − 1ek − 1 die Potenz xk durch − ak − 1 xk − 1 −  …  − a1 x − a0, und multiplizieren aus.

In der erhaltenen Summe ersetzen wir alle evtl. auftretenden Potenzen aini für 0 ≤ i < k durch −bi, ni − 1 aini − 1 −  …  − bi, 1 ai − bi, 0. (Eine solche Ersetzung findet für i genau dann statt, wenn ei + 1 = ni gilt.)

Ausmultiplizieren liefert eine gewünschte Linearkombination der zi.

Seien also ci, j ∈ wie in (#) und sei C = (ci, j)1 ≤ i, j ≤ p die zugehörige Matrix.

Sei weiter E = (δi, j)1 ≤ i, j ≤ p die Einheitsmatrix, also δi, i = 1, δi, j = 0 für i ≠ j.

Sei z der Spaltenvektor mit Einträgen z1, …, zp. Nach (#) gilt

(C − xE) z = 0.

Aber z ist nicht der Nullvektor (da x0a00a10 … ak − 10 = 1), also

det(C − xE) = 0.

Entwicklung der Determinante zeigt nun, dass x eine Lösung von

xp + rp − 1 xp − 1 +  …  + r1 x + r0 = 0

mit gewissen rationalen Koeffizienten r0, …, rp − 1 ist.

Mit der Methode des Beweises können wir weitere natürliche Fragen positiv beantworten: Sind die algebraischen Zahlen abgeschlossen unter Addition und Multiplikation? Bilden sie einen Unterkörper von ? Einige Abgeschlossenheitseigenschaften sind klar:

Lemma (elementare arithmetische Abschlusseigenschaften von 𝔸)

Sei a ∈ 𝔸. Dann gilt:

(ii)

1/a ∈ 𝔸, falls a ≠ 0.

(iii)

a + q ∈ 𝔸 für alle q ∈ .

Beweis

Sei a eine Lösung von ak xk + ak − 1 xk − 1 +  …  + a1 x + a0 = 0 mit ai ∈ und ak ≠ 0.

zu (i): −a ist eine Lösung der Gleichung

(−1)k ak xk + (− 1)k − 1 ak − 1 xk − 1 +  …  + (− 1) a1 x + a0 = 0.

zu (ii): 1/a ist eine Lösung der nichttrivialen Gleichung

a0 xk + a1 xk − 1 + a2 xk − 2 +  …  + ak − 1 x + ak = 0.

zu (iii): Sei q ∈ . Ausmultiplizieren von

ak (x − q)k + ak − 1 (x − q)k − 1 +  …  + a1 (x − q) + a0

liefert ein Polynom mit rationalen Koeffizienten und Leitkoeffizient ak ≠ 0, das x + q als Nullstelle besitzt.

Die Abgeschlossenheit algebraischer Zahlen unter Addition und Multiplikation ist keineswegs so billig zu haben. Sie kann aber mit der Methode des obigen Satzes bewiesen werden:

Satz

Die algebraischen Zahlen 𝔸 bilden einen Körper.

Beweis

Seien a, b ∈ 𝔸. Nach dem Satz oben ist − a ∈ 𝔸 und weiter 1/a ∈ 𝔸, falls a ≠ 0.

Da  ⊇ 𝔸 ein Körper ist, bleibt nur noch zu zeigen, dass a + b, a · b ∈ 𝔸.

Seien hierzu c1, …, ck − 1, d1, …, dk ′ − 1 ∈ mit

ak + ck − 1 ak − 1 +  …  + c1 a + c0 = 0.
bk ′ + dk ′ − 1 bk ′ − 1 +  …  + d1 b + d0 = 0.

Weiter sei z1, …, zp eine Aufzählung aller Produkte ai bj mit i < k, j < k ′.

Sei x = a + b. Dann gilt wie im Beweis oben für alle 1 ≤ i ≤ p:

(#) x zi ist eine Linearkombination von z1, …, zp mit rationalen Koeffizienten.

Wie oben folgt hieraus, dass x Lösung einer nichttrivialen Gleichung mit rationalen Koeffizienten ist, d. h. x ∈ 𝔸. Analoges gilt für x = a · b.

Damit erhalten wir nun:

Satz (Abgeschlossenheitssatz für die algebraischen Zahlen, starke Form)

Seien a0, …, ak ∈ 𝔸, ak ≠ 0, und sei x ∈ derart, dass

ak xk + ak − 1 xk − 1 +  …  + a1 x + a0 = 0.

Dann ist x ∈ 𝔸.

Beweis

Es gilt xk + ak − 1/ak xk − 1 +  …  + a1/ak x + a0/ak = 0.

Alle Koeffizienten dieser Gleichung sind algebraisch, da 𝔸 Körper.

Nach der normierten Form des Satzes ist also x ∈ 𝔸.

Verfolgt man die Rechenoperationen des obigen Beweises genauer, so ergibt sich ein interessantes zusätzliches Ergebnis. Hierzu:

Definition (ganze algebraische Zahlen, 𝔸*)

Eine reelle Zahl x heißt ganze algebraische Zahl, falls es a0, …, ak − 1 ∈ gibt mit:

xk + ak − 1 xk − 1 +  …  + a1 x + a0 = 0.

Wir setzen noch 𝔸* = { x ∈ | x ist eine ganze algebraische Zahl }.

Die Beweise oben zeigen de facto:

Satz (Abgeschlossenheitssatz für die ganzen algebraischen Zahlen)

Lösungen normierter Gleichungen mit Koeffizienten in 𝔸* sind in 𝔸*.

Weiter ist 𝔸* ein Ring. Ist a ∈ 𝔸* Lösung einer Gleichung der Form

xk + ak − 1 xk − 1 +  …  + a1 x + 1 = 0 mit a1, …, ak − 1 ∈ ,

so ist 1/a ∈ 𝔸*.

Transzendente Zahlen

Vom anderen Ende her gedacht stellt sich die Frage, ob die algebraischen Zahlen vielleicht schon ganz  ausschöpfen. Dies ist nicht der Fall. Die Stärke der Polynome in Ehren, aber sie genügen nicht, um mit Hilfe von  ganz  zu erschließen. Wir definieren:

Definition (transzendente Zahlen)

Ein x ∈ heißt transzendent, falls x nicht algebraisch ist.

Der erste Nachweis der Existenz transzendenter Zahlen gelang Joseph Liouville im Jahre 1844 mit Hilfe von Kettenbrüchen. Sieben Jahre später gab er noch einen einfacheren Beweis. Der Liouvillesche Ansatz liefert konkrete transzendente Zahlen, die allerdings nicht aus der üblichen mathematischen Tätigkeit stammen, wie etwa π oder e. Der Transzendenznachweis für einzelne prominente Größen der Mathematik erwies sich dann auch als ein sehr anspruchsvolles Unterfangen − Liouville selber hatte zum Ziel gehabt, die Transzendenz von e zu zeigen. Dies gelang erst Charles Hermite 1873, und seinen Spuren folgend bewies Ferdinand Lindemann im Jahre 1882 die Transzendenz der Kreiszahl π. Legendre hatte bereits 1806 die Vermutung geäußert, dass π transzendent sei. Cantor konnte 1874 einen sehr einfachen Beweis für die pure Existenz transzendenter Zahlen geben (vgl. Kapitel 2).

in Dieudonne (1985):

„Die Theorie der transzendenten Zahlen sollte Rückwirkungen auf die ganze Zahlentheorie haben: auf die Theorie der Diophantischen Gleichungen, die Primzahltheorie, die Theorie der algebraischen Zahlen. Was die Schwierigkeit des Gegenstandes anlangt, so bemerken wir, dass nach Liouville im Verlaufe von etwa dreißig Jahren praktisch kein neues Resultat erzielt wurde.“

Der Satz von Liouville selber ist dagegen überraschend einfach zu beweisen. Er setzt die Untersuchung der Approximierbarkeit von reellen Zahlen durch rationale Zahlen fort.

Satz (Satz von Liouville)

Sei x eine algebraische Zahl, und sei k = deg (x) ≥ 1.

Dann existiert ein c ∈ + mit der Eigenschaft:

|x − p/q| > c/qk für alle p ∈ , q ∈ + mit p/q ≠ x.

Algebraische Zahlen vom Grad k ≥ 1 sind also nicht d/qk + 1-approximierbar für alle d ∈ +. Rationale Zahlen sind algebraische Zahlen vom Grad Eins, und damit verallgemeinert der Satz von Liouville das obige Ergebnis, dass rationale Zahlen nicht d/q2-approximierbar sind für alle d ∈ +.

Beweis

Seien also a0, …, ak ∈ , ak ≠ 0 derart, dass ak xk +  …  + a1 x + a0 = 0.

Sei 0 < ε < 1 derart, dass im Intervall [ x − ε, x + ε ] keine weiteren Nullstellen des Polynoms

f(y) = ak yk +  …  + a1 y + a0

liegen.

Sei weiter s ∈ + derart, dass gilt:

(+) |f (y)|/|y − x| < s für alle y mit |y − x| < ε, x ≠ y.

Zur Existenz eines solchen s bemüht man entweder den Mittelwertsatz der Differentialrechnung (mit |f(y)| = |f(y) − f(x)|), oder argumentiert so:

Beweis der Existenz von s

Sei f(y) = (y − x)(bk − 1 yk − 1 + … + b0) [ Polynomdivision ].

Ist t ∈ + eine Schranke für das Polynom bk − 1 yk − 1 + … + b0 im Intervall [ x − ε, x + ε ], so ist s = t + 1 wie in (+).

Für alle rationalen Zahlen p/q mit f(p/q) ≠ 0 gilt:

(++) |f(p/q)| ≥ 1/qk.

Denn f(p/q) = ( ak pk + ak − 1 pk − 1 q +  …  + a1 p qk − 1 + a0qk) / qk; der Zähler dieses Bruchs ist ganzzahlig, und ungleich 0, da f(p/q) ≠ 0.

Für alle p/q ∈ [ x − ε, x + ε ] mit p/q ≠ x gilt damit nach (+) und (++):

|x − p/q| > 1/s · |f(p/q)| ≥ 1/s · 1/qk.

Damit ist c = min(ε, 1/s) wie gewünscht.

Insbesondere gilt: Die „typischen“ Quadratwurzeln sind nicht 1/q3-approximierbar, die „typischen“ dritten Wurzeln nicht 1/q4-approximierbar, usw. Der Beweis des Satzes zeigt, wie das limitierte Wachstumsverhalten von Polynomen zu Limitationen der Approximierbarkeit führt. Je einfacher eine algebraische Zahl als Nullstelle erhalten werden kann, desto schlechter ist sie rational approximierbar. Die gute Approximierbarkeit einer reellen Zahl durch rationale Zahlen zeigt also die algebraische Komplexität der Zahl und nicht etwa ihre Einfachheit. Positiv erhalten wir:

Korollar (Identifikation transzendenter Zahlen, Liouville-Kriterium)

Ist x ∈ 1/qk-approximierbar für alle k ∈ , so ist x transzendent.

Dem Finder zu Ehren definiert man:

Definition (Liouville-Zahlen)

Ein x ∈ heißt eine Liouville-Zahl, falls für alle k ∈ gilt:

x ist 1/qk-approximierbar.

Alle Liouville-Zahlen sind also transzendent. Liouville-Zahlen lassen sich nun leicht konstruieren. Es entstehen hinsichtlich ihrer Definition sehr einfache reelle Zahlen, die aber aus algebraischer Sicht unfassbar kompliziert sind. Als Beispiel einer Liouville-Zahl geben wir an:

x = n ∈ 10−n! = 0,1 1 000 1 00000000000000000 1 0 … 

Die Zahl x ist gebildet aus einsamen Einsen zwischen fakultativ anwachsenden Nullblöcken. Es ist leicht zu sehen, dass x tatsächlich eine Liouville-Zahl ist. Verblüffend ist, dass wir mit recht einfachen Argumenten zeigen konnten, dass Nullstellen von Polynomen mit rationalen Koeffizienten kein derartiges Nachkommaverhalten aufweisen können.

Übung

Der unendliche Kettenbruch [ 10, 10, 100, 1000000, …, 10n!, …, …, … ] ist eine Liouville-Zahl.

Relativ knappe und gut zugängliche Beweise der Transzendenz von e und π findet der Leser z. B. im Klassiker [ Hardy/Wright 1979 ].